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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Rammstedt
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noch mehr erzählen würde, aber er schaute nur stumm in seinen Tee, die Kinder zu seinen Füßen waren bereits eingeschlafen. Dass er auch müde sei, sagte er dann, und wir gingen nach Hause.
    Nun liege ich hier, schreibe Euch das alles und muss immer an Lian denken. Habt Ihr Großvater jemals von ihr erzählen hören? Warum fangt er plötzlich damit an? Vielleicht hat er sie sich auch einfach nur ausgedacht, denn in einem muss ich ihm wirklich recht geben: Es gibt tatsächlich vieles, was ich nicht von ihm weiß.
    Es gibt auch so vieles, was ich von Euch nicht weiß. Vielleicht sollten wir das nächste Mal doch alle zusammen nach China fahren.
    Ich umarme Euch herzlich,
K.

Seit diesem Vorfall im Wohnzimmer traf ich Franziska dort nach jedem Streit, den sie mit meinem Großvater hatte.
    Zum Glück gab es viele davon, und ich freute mich, wenn bereits beim Abendbrot die Stimmung so gespannt war, dass es nur noch eine Frage von Stunden sein konnte, im Notfall half ich etwas nach, mit irgendeinem heiklen Thema, das ich scheinbar unachtsam anschnitt, mit lauter Musik, die ich spät nachts noch auflegte, mit ein paar gezielt verbreiteten Fehlinformationen. Nach kurzer Zeit drehte Franziska fast täglich ihre Runden um mich, auch nach verhältnismäßig ruhigen Abenden, und ich begann zu hoffen, dass sie den ein oder anderen Streit selbst anzettele, um so oft wie möglich ins Wohnzimmer flüchten zu können, wo ich mittlerweile bereits immer schon auf sie wartete.
    Es waren auch genau diese Wochen, in denen der Körper meines Großvaters mit seinem Verfall begann, erst noch vergleichsweise langsam, was seine Stimmung trotzdem immer stärker beeinträchtigte, sodass ich kaum mehr nachhelfen musste, sicherheitshalber ließ ich dennoch hin und wieder ein paar Tabletten verschwinden oder vertat mich bei seiner Abendessenportion ein wenig mit den Gewürzen.
    In der ersten Zeit kämpfte mein Großvater noch regelmäßig gegen die ungewohnte Gebrechlichkeit an, ein-und fast eigenhändig begann er, das Gartenhaus zu renovieren, er meldete sich und Franziska zu einem Tangokurs an (auch wenn sie die erste Stunde aus einem mir nicht bekannten Grund vorzeitig verließen und danach nie wieder hingingen), einmal beobachtete ich ihn sogar, wie er mit nacktem Oberkörper vor dem Badezimmerspiegel einen Ohrring meiner jüngeren Schwester prüfend vor seine Brustwarze hielt.
    Zu Franziskas und seinem einjährigen Jubiläum führte er sie noch einmal aus, das war vor gerade einmal drei Monaten. »Es kann später werden«, hatte er uns gesagt, wohl eher um mit der Möglichkeit zu prahlen, als um uns unnötige Sorgen zu ersparen. Und tatsächlich war es auch bereits nach zwei Uhr nachts, als mein Telefon klingelte. Ich konnte Franziska kaum verstehen, so schnell sprach sie, das Wort »Kammerflimmern« fiel jedoch häufig, so häufig, dass ich es die ganze Fahrt zum Krankenhaus vor mich hin sagte, und auch am Informationsschalter konnte ich damit noch nicht aufhören. Ob es mir gut gehe, wurde ich immer wieder gefragt, und ich sagte, dass ich das noch nicht genau wisse.
    Mein Großvater wurde, wie sich herausstellte, bereits operiert. Wie es um ihn stehe, fragte ich in der Notaufnahme, und die Krankenschwester versuchte zu lächeln. »Machen Sie sich mal keine Sorgen«, sagte sie und schob mich Richtung Wartebereich, und auch wenn sie nicht sagte, warum ich mir keine machen sollte, bemühte ich mich, ihrem Rat so weit es ging zu folgen.
    Franziska saß ganz außen in der Reihe Hartplastikschalen im Wartebereich, auf den übereinandergeschlagenen Beinen ein Kreuzworträtsel. Als ich näher herantrat, sah ich, dass sie dabei war, jedes Kästchen gewissenhaft zu schraffieren, erst als sie mit dem letzten fertig war, blickte sie zu mir hoch.
    »Er hat mir versprochen, dass er nicht stirbt«, sagte sie, und es klang so, als ob auch mich diese Information beruhigen sollte. Ich nickte und setzte mich neben sie. Franziska trug ihren blauen Regenmantel, darunter, wie ich jetzt sah, nicht viel, als sie meinen Blick bemerkte, zog sie die Mantelschöße hinunter und hielt sie fest.
    Natürlich hätte ich meine Geschwister anrufen sollen, aber sie wären dann unweigerlich alle sofort gekommen, und mein zweitältester Bruder hätte mit dem Chefarzt sprechen wollen, meine ältere Schwester hätte geweint, und mein ältester Bruder hätte gesagt, dass es am wichtigsten sei, jetzt Ruhe zu bewahren, sehr häufig und sehr laut hätte er das gesagt, und meine

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