Der Kaiser von China
Zirkus.
Ich hätte gar nicht gewusst, wie sehr er sich für Akrobatik begeistere, sagte ich, und Großvater meinte, da gebe es vieles, was ich von ihm nicht wisse, und ich widersprach ihm nicht.
Diesmal ließ ich ihn allerdings allein gehen, was ihm nichts auszumachen schien. Ich freute mich über diesen ruhigen Abend und war gerade wieder bei einer Zahnpflegedokumentation hängen geblieben (im Abendprogramm finden die Sendungen dann anscheinend vor Studiopublikum statt, das überraschend häufig lacht und manchmal sogar aufschreit), als Großvater schon wieder zurückkam. Ob die Vorstellung nicht gut gewesen sei, fragte ich. »Doch, doch«, sagte Großvater, »aber es war nicht das Richtige für mich.«
Stattdessen schlenderten wir noch ein wenig durch Xi ' an.
In die Gefahr, uns zu verlaufen, gerieten wir diesmal nicht, denn die Stadt ist bei aller Größe doch angenehm geradlinig. Angelegt wie ein Schachbrett, bilden die Straßen Quadrate, in denen die Fensterläden der Häuser blockweise entweder schwarz oder weiß gestrichen sind.
Auch in Xi ' an ist nachts mindestens genauso viel Betrieb wie tagsüber, selbst kleine Kinder tollen noch auf den Straßen herum, vor vielen Restaurants warten Dutzende von Menschen in wohlgeordneten Schlangen, die sich allerdings, sobald der Kellner einen frei gewordenen Tisch ausruft, sofort in ein wildes Gewusel verwandeln, in dem es nicht selten zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt.
Großvater und ich holten uns deshalb nur einen Tee von einem der vielen improvisierten Straßenstände und knieten uns auf den Bürgersteig, wie es alle hier zu machen scheinen.
Ein paar Kinder betrachteten uns erst argwöhnisch, trauten sich dann aber näher heran, begannen sogar, nachdem sie erst vorsichtig seine Nase berührt hatten, auf Großvater herumzuklettern, und er ließ sie gewähren.
»Danke, dass du mitgekommen bist«, sagte er dann zu mir. »Natürlich«, sagte ich, es scheine ihm schließlich sehr wichtig gewesen zu sein, hierherzukommen , und Großvater strich sich eine Kinderhand aus dem Gesicht und sagte: »Ja«, aber er sei sich nicht mehr ganz sicher, was er hier eigentlich gewollt habe.
Wir tranken unseren Tee und beobachteten das Treiben auf der Straße, eine Gruppe Geschäftsmänner in Anzügen raste laut klingelnd auf ihren Tandems an uns vorbei, eine alte Frau saß im Schneidersitz auf der Kühlerhaube eines fahrenden Jeeps und stickte, eine ganze Familie ließ sich auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig die Haare schneiden, alle bekamen exakt die gleiche Frisur und wirkten sehr zufrieden.
Großvater lächelte, » Lian hat immer gesagt, mir würde es in China sicher gefallen«.
Wer denn Lian sei, fragte ich, und Großvater räusperte sich. »Ich schätze, ich habe dir nie von ihr erzählt«, sagte er. Die Kinder kletterten immer noch auf ihm herum, ein kleiner Junge spielte mit dem lose baumelnden linken Hemdsärmel, ein Mädchen versuchte, aus Großvaters schütterem Haar einen Zopf zu flechten. » Lian war die stärkste Frau der Welt und meine einzige große Liebe«, sagte Großvater dann, und es klang so, als habe er sich schon lange darauf gefreut, diesen Satz einmal aussprechen zu dürfen.
Wie immer nahm ich es nicht ganz ernst, wenn Großvater von Liebe sprach, schon gar nicht von großer Liebe, aber diesmal schien etwas anders zu sein, er sagte es nicht voller Stolz auf seine Fähigkeit zu ausufernden Gefühlen, er sagte es noch nicht einmal nostalgisch, es war eher eine unbestreitbare Tatsache, die er mir da mitteilte, etwas, das leicht zu überprüfen war, das in jedem Schulbuch stand.
Ob ich sie kennengelernt hätte, fragte ich, doch Großvater schüttelte den Kopf. »Das ist alles lange her«, sagte er. »Ich bin damals so alt gewesen wie du jetzt.« Ich versuchte mir, Großvater in meinem Alter vorzustellen, aus irgendeinem Grund trug er einen schmalen Schnurrbart und eine keck ins Gesicht geschobene Mütze, im linken Mundwinkel steckte ein Zahnstocher, sein Blick war starr und scheu, die Arme so fest verschränkt, dass ich nicht ausmachen konnte, wie viele es waren.
» Lian kam aus China«, sagte Großvater. »Ihr Name bedeutet so viel wie >anmutige Weide<, und ich konnte mir keinen unpassenderen Namen vorstellen.«
Ob wir etwa hier seien, um sie zu suchen, fragte ich, und Großvater winkte ab, nein, nein, sie sei schon lange tot. »Ich will nur wissen, ob mich hier irgendetwas an sie erinnert«, sagte er.
Ich wartete darauf, dass Großvater
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