Der Kalligraph Des Bischofs.
herüber.
Die Einwohner kommen jetzt überall aus ihren Häusern, um zur Kirche zu gehen. Ich sollte meine sichere Ankunft ebenfalls mit
einem Gottesdienst feiern.
An der Ostseite der Stadt führte eine Handelsstraße entlang. Dort würde es ein Tor geben.
Die Einwohner von Tours mußten sehr fromm sein. Die schweren Torflügel standen offen, aber kein Wächter prüfte die Besucher
der Stadt. Germunt humpelte zögerlich unter dem steinernen Bogen hindurch. Waren alle Menschen in der Kirche? Die Straßen
waren wie ausgestorben. Frische Abfälle und der Geruch von Kot bewiesen, daß vor wenigen Stunden noch eifriges Leben geherrscht
haben mußte. Neugierig eilte Germunt dorthin, wo er vom Waldrand aus den Kirchturm gesehen hatte. Er suchte sich eine Seitentür
am Kirchenschiff und lauschte daran. Keine Gesänge, kein Psalmodieren war zu hören.
|168| Ein Schwindelgefühl bemächtigte sich seiner. Vorsichtig zog er die Tür auf. Die Kirche war leer.
Furcht drang in seine Hände und Knie. Es gab kein Feuer und keine Toten, die Stadt konnte nicht überfallen worden sein. Was
hatte sie heimgesucht? Da hörte er jemanden mit heiserer Stimme rufen: »Magdalena? Magdalena?«
Er fand einen Mann, der sich mit geschlossenen Augen an einer Häuserwand entlangtastete. Vorsichtig rührte er ihn an der Schulter
an.
Der Mann schrak zusammen. »Magdalena? Das ist nicht witzig!«
»Ich bin nicht Magdalena.«
»Was …? Wer seid Ihr dann? Wieso seid Ihr nicht in Marmoutier?«
»Ich bin neu in Tours. Was ist hier los?«
»Es ist Ostersonntag! Alle sind in Booten nach Marmoutier übergesetzt.«
»Aber warum?«
»Ihr wißt das nicht? Sie besuchen die Zelle des heiligen Martin, feiern dort eine Messe. Meine Frau denkt wohl, ich bin bei
meinem Bruder mitgefahren.«
»Ist es weit bis Marmoutier?«
»Man muß nur den Fluß überqueren. Könnt Ihr mich hinüberrudern?«
»Wenn wir ein Boot finden.«
Wie selbstverständlich legte der Blinde seine Hand auf Germunts Schulter. »Gehen wir zum Fluß. Bin ich froh, daß ich Euch
gefunden habe!«
Eher habe wohl ich Euch gefunden,
widersprach Germunt in Gedanken. Er versuchte, sich so zu orientieren, daß das Tor zu seiner Rechten lag. »Gibt es denn im
Norden eine Öffnung in der Mauer, die zum Fluß rausführt?«
»Ich weiß nichts von Himmelsrichtungen, aber beim Fluß gibt es das Brückentor.«
»Brückentor?« Germunt blieb stehen. »Wieso rudert man mühevoll über den Fluß, wenn es eine Brücke gibt?«
|169| »Es gibt keine Brücke. Das Tor heißt nur so. Die Römer hatten hier wohl mal eine Brücke.«
Als Germunt das bewußte Tor passierte, schüttelte der Blinde ihn ungeduldig an der Schulter. »Seht Ihr etwas? Ich höre entfernte
Stimmen. Sind sie noch auf dem Fluß?«
»Ungefähr in der Mitte, ja.« Der Fluß war breiter, als Germunt erwartet hatte. Über dreihundert Schritt wälzten sich die Wassermassen
dahin, und ein Schwarm von kleinen Kähnen wippte auf halbem Wege in den Wellen. Frischer Wind schnitt über die Wasserfläche.
»Sind noch Boote hier?«
Germunts Blick fiel auf zwei Ruderboote, die auf dem sandig-nassen Ufer lagen. »Kommt mit.«
Es zeigte sich, daß der Rumpf des einen Kahns gerissen war. Der andere, kleinere Kahn war scheinbar in Ordnung. Germunt führte
die Hände des Blinden an das Heck. Dann lief er zum Bug und ächzte: »Schiebt!«, während er selbst versuchte, das Boot zum
Wasser zu ziehen. Der nasse Sandboden schien es zunächst festhalten zu wollen, dann löste es sich mit einem schmatzenden Geräusch
und ließ sich zum Fluß schleifen.
Sie zogen es, bis es zu drei Vierteln im Wasser lag. Vom Rumpf lösten sich große Batzen Ufersand und trieben wie Wolken im
Fluß. Germunt half dem Blinden einzusteigen und schob den Kahn weiter, bis er frei schaukelte. Das Wasser biß kalt in seine
Beine. Er hob das steife Bein über die Kante des Boots, nahm Schwung und hievte sich hinein. Dann griff er sich die Ruder.
Die Anstrengung beim Rojen half, sich im kühlen Wind zu wärmen.
Irgendwann spürte Germunt Nässe an den Füßen. In einer bösen Ahnung ruderte er schneller.
»Der Kahn ist nicht dicht.« Der Blinde tastete über den Boden. »Beeilt Euch, bitte.«
Wenig später stand den beiden das Wasser bis an die Knöchel. Germunt stieß zwischen seinen Ruderzügen aus: »Wir schaffen es
nicht. Könnt Ihr schwimmen?«
|170| »Nein.«
»Wunderbar.«
Ich weiß nicht mal, ob ich mit diesem Bein schwimmen
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