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Der Kalligraph Des Bischofs.

Der Kalligraph Des Bischofs.

Titel: Der Kalligraph Des Bischofs. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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hatte er ungern gelernt. Erst in Turin, wo selbst die kleinen Kinder Latein
     sprachen, ihre Abzählreime, ihre schmutzigen kleinen Geschichten, ihre Kinderflüche, dort war es ihm zu einer Sprache aus
     Fleisch und Blut geworden.
    Und nun war er wieder von romanischen Klängen umgeben. Wenn er sich erkundigte, welche Straße ihn näher zu seinem Ziel bringen
     würde, hatten die Befragten häufig noch nie von der Stadt gehört, oder sie murmelten, während sie ihm die Richtung wiesen,
     daß er noch einen weiten Weg vor sich habe.
    Es machte auch den Eindruck, als würde der himmlische Herr ihm die Reise so schwer wie nur möglich machen wollen. Einmal goß
     es für drei Tage fast ununterbrochen, so daß Germunt nichts anderes übrigblieb, als in einer Scheune zu warten. Die Wege waren
     hinterher schmatzende Schlammtümpel. Ein anderes Mal verlor sich der Pfad, dem er folgte, in einem dichten Wald, und ehe er
     ihn wiederfinden konnte, brach die Dunkelheit herein.
    Jeden Abend brannten ihm die Füße. Das Stechen im Bein war dumpf geworden, er gewöhnte sich daran, es zu ignorieren. Immer
     wieder taten sich neue Landschaften vor ihm auf, große Gebiete, die er erst durchwandern mußte, ehe er wieder zu neuen kam,
     die nicht sein Ziel waren.
    |165|
Krüppel Germunt,
sagte er sich,
immer tust du das, was du am wenigsten kannst. Im Moment ist es das Laufen.
    Nach wochenlanger Reise fragte er einen Kalkbrenner, ob er ihm den Weg nach Tours weisen könne.
    »Dem Bischof von Tours gehört dieses Landstück«, antwortete der Mann. »Wenn Ihr heute in der Herberge in Brenecay übernachtet,
     könnt Ihr am Ostersonntag in Tours sein.«
    Es hätte nichts geben können, was Germunt an jenem Tag von Brenecay ferngehalten hätte.

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    |166| 13. Kapitel
    Der Wirt in Brenecay hatte Germunt eine Abkürzung vorgeschlagen, die ihn schnurstracks nach Norden führen sollte, so daß er
     Tours in dreieinhalb Stunden erreichen würde.
Ein merkwürdiges Gefühl, plötzlich so nah am Ziel zu sein,
dachte Germunt, während er sich im roten Morgenlicht auf einen Wald zubewegte.
Ich habe das Wandern so satt, daß ich es genau noch dreieinhalb Stunden aushalten kann – nicht länger.
Ob sich diese Empfindung nach den Gegebenheiten richtete? Hätte er ohne Schwierigkeiten vier weitere Tage geschafft, wenn
     Tours entsprechend weit entfernt wäre? Allein der Gedanke machte seinen Schritt schwer.
    Da waren die massigen Stämme, der schattige Waldboden. Kein Weg, hatte der Wirt gesagt. Er solle nur immer seiner Nase folgen.
Ein letztes Mal,
dachte sich Germunt. Er tauchte in den Wald ein. Glücklicherweise gab es wenig Unterholz, so daß er ungehindert vorankam.
    Er war gespannt auf das Licht am anderen Ende des Waldes und das, was danach kam. Diese Gegend hier würde für die nächsten
     Monate sein Zuhause sein. Die Bäume bekamen eine Bedeutung, die ihre unzähligen Gefährten unterwegs nie gehabt hatten. Germunt
     nahm einen tiefen Atemzug. Nach Moos duftete der Wald, nach feuchten Nadeln und Blättern und nach den Spinnen, Läusen und
     Würmern, die sich in ihnen zu Hause fühlten. Vielleicht roch er auch ein wenig nach Schweinen, Hirschen und Bären. Es war
     ein würziger Geruch, ein lebendiger. Ob der Wald in jedem Land anders duftete? Zu Hause hatte Germunt erlebt, daß Hunde andere
     Tiere allein nach dem Geruch aufspüren |167| konnten. Ob sie schon unter den ersten Bäumen eines Waldes rochen, welche Tiere sich in diesem Gebiet aufhielten? Und ob es
     Menschen gab, die das genauso konnten?
    Schließlich drang Helligkeit in die dunklen Hallen, und Germunt zählte jeden Schritt am Ende seiner Reise. Das erste, was
     er erkennen konnte, waren Getreidefelder und weinbewachsene Hügel. Dann trat er zwischen den letzten Bäumen hervor und sah
     die Stadt. Ihre Mauer buchtete sich an einer Stelle in großem Schwung in seine Richtung aus. Auf der anderen Seite grenzte
     sie an einen Fluß, der sich in weiten Bögen durch das Land schlängelte. Neben der Stadt durchschnitt er einen Hügel: Tours
     lag in einer Niederung, während sich auf der anderen Seite des Flusses weiße Steinwände erhoben. Einige Hütten und Häuser
     waren wie von mächtiger Hand rings um die Stadtmauer verstreut.
    Im Westen der Mauer, weit genug entfernt, um eigenständig zu stehen, erhob sich eine Kirche, umgeben von breiten, sich niederduckenden
     Gebäuden. Im Turm eines anderen Gotteshauses schwangen die Glocken, leise klang das Geläut zu ihm

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