Der kalte Hauch der Nacht - Inpektor Rebus 11
mal zu ihr gesagt: »Die Arbeit hier raubt einem die letzten Illusionen, macht einen fix und fertig.« Drei Penner hatten eine Studentin attackiert, eine zweite Studentin war in einer der reichsten Straßen der Stadt fast vergewaltigt worden. Eine dreiste Anmache durch zwei Typen in einem Auto und eine unverschämte Beleidigung – im Vergleich zu solchen Vorfällen war das natürlich beinahe eine Bagatelle. Trotzdem hatten der Name – Jerry – und der glänzend schwarze Schlitten sich ihrem Gedächtnis eingeprägt.
Von der Fußgängerbrücke aus sah sie jetzt unter sich die Gleise und das Gewühl der Reisenden. Über ihr das undichte Glasdach des Bahnhofs. Plötzlich stürzte am äußersten Rand ihres Blickfelds etwas durch das Dach. Zunächst glaubte sie an eine Einbildung. Als sie in die Richtung blickte, sah sie Schneeflocken. Nein, keine Schneeflocken: große Glasscherben. Oben im Dach war ein Loch, und unten auf einem Bahnsteig kreischte jemand. Einige Taxifahrer waren ausgestiegen und rannten auf den Bahnsteig.
Wieder einer, der es nicht mehr ausgehalten hatte – ja, genau, das war es. Der Bahnsteig lag zum Teil im Dunkeln: Sie starrte in ein schwarzes Loch. Dann rannte Siobhan über eine Treppe hinunter in die Halle. Unten warteten Fahrgäste auf den Nachtzug nach London. Eine Frau weinte. Einer der Taxifahrer hatte die Jacke ausgezogen und den Selbstmörder damit zugedeckt. Siobhan bahnte sich ihren Weg. Der andere Taxifahrer hob die Hand, um sie zu stoppen.
»Lassen Sie das besser, Teuerste.« Teuerste – sie war verwirrt. Was meinte der Mann bloß?
»Ich bin Polizeibeamtin«, sagte sie dann und zeigte ihm ihre Dienstmarke.
So viele Leute waren schon von der North Bridge gesprungen, dass die Bahnhofsmission am Geländer ein Schild angebracht hatte. Die North Bridge verband die Altstadt von Edinburgh mit der Neustadt und führte über den tiefen Graben hinweg, in dem der Waverley-Bahnhof lag. Als Siobhan oben ankam, war weit und breit niemand zu sehen. Nur in der Ferne erkannte sie Gestalten, hörte Stimmen: Betrunkene, die nach Hause wankten. Taxis und Autos. Offenbar hatte niemand etwas von dem Unglück mitbekommen. Jedenfalls war weit und breit niemand zu sehen. Siobhan beugte sich über das Geländer und sah auf das Bahnhofsdach hinab. Fast direkt unter ihr war das Loch. Ja, sie konnte durch das Loch sogar erkennen, wie unten auf dem Bahnsteig die Rettungsleute eintrafen. Siobhan hatte natürlich sofort die Kollegen benachrichtigt und sie gebeten, eine Ambulanz zu schicken. Sie war ja nicht mal im Dienst – sollten sich doch die anderen um die Sache kümmern. Falls der erste Eindruck sie nicht getrogen hatte, handelte es sich bei dem Toten um einen Penner. Nur dass das Wort inzwischen verpönt war. Das richtige Wort fiel ihr allerdings nicht ein. In ihrem Kopf verfasste sie bereits den Bericht. Als sie die leere Straße sah, wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie auch einfach weitergehen konnte. Sollten sich doch die anderen damit befassen. Sie stieß mit dem Fuß gegen etwas. Eine ausgebeulte Plastiktüte. Sie bückte sich und hob die Tüte auf. Eine dieser überdimensionierten Plastiktüten, wie man sie in Textilhäusern beim Kleiderkauf erhält. Sogar eine Jenners-Tüte. Das Nobel-Kaufhaus war zu Fuß nur ein paar Minuten entfernt. Sie konnte sich nicht recht vorstellen, dass der Selbstmörder jemals dort eingekauft hatte. Vielmehr sprach alles dafür, dass seine sämtlichen Habseligkeiten in dieser Tüte verborgen waren. Sie nahm die Tüte und ging wieder zurück zum Bahnhof.
Sie hatte schon vorher mit Selbstmordfällen zu tun gehabt, mit Leuten, die den Gashahn aufdrehten und einfach neben dem Ofen sitzen blieben oder sich bei laufendem Motor in der Garage in ihren Wagen setzten. Tablettenfläschchen neben dem Bett, weißblau gefleckte Lippen. Erst vor kurzem war ein Kripobeamter von den Salisbury Crags gesprungen. Solche Orte gab es reichlich in Edinburgh. Ja, an selbstmordtauglichen Orten herrschte in der Stadt wahrlich kein Mangel.
»Warum gehen Sie nicht einfach nach Hause?«, wollte eine Polizistin wissen. Die Beamtin lächelte. »Was hält Sie denn hier?«
Gute Frage. Offenbar ahnte die Frau, dass zu Hause auf Siobhan nur wenig Erfreuliches wartete.
»Sind Sie nicht in Inspektor Rebus' Abteilung?«, fragte die Beamtin.
Siobhan sah sie an. »Ja und?«
Die Frau zuckte mit den Achseln. »Tut mir Leid, war ja nur 'ne Frage.« Dann drehte sie sich um und ging weg. Der Bereich des
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