Der kalte Himmel - Roman
Waschbecken die Hände und band sich dann eine Schürze um. Sie öffnete den Küchenschrank und drückte Lena die Suppenteller in die Hand, die Mutter und Tochter nun gemeinsam auf dem Tisch verteilten.
Über den Hof sah man bereits Xaver und Paul auf das Haus zulaufen, als der Motor der Hopfenmaschine plötzlich ansprang und sein Getöse das ganze Grundstück erfüllte. Marie, die ihren Mann eben noch durch die Scheibe hatte kommen sehen, schaute verdutzt hinaus. Noch bevor sie überhaupt denken konnte, spürte sie schon, wie ihr das Herz bis zum Halse schlug. Sie ahnte fast, dass der Verursacher dieses Motorengeräusches nur einer sein konnte: Felix.
Für einen quälenden Moment hielt Marie inne. Ein Teller rutschte ihr aus der Hand, ohne dass sie hätte sagen können, wie. Während das Porzellan auf dem Steinboden der Küche zerbarst, musste Paul über den Hof in die Scheune gerannt sein, denn das Motorengeräusch verstummte so plötzlich, wie es begonnen hatte.
Anstelle der Maschine drangen nun die Schreie des Jungen über den Hof. Marie, Elisabeth und die beiden älteren Kinder liefen aus dem Haus hin zur Scheune, wo Paul wie von Sinnen auf seinen Jüngsten eindrosch. Vergeblich mühte sich Xaver, den Wütenden zur Vernunft zu bringen.
» Bist du wahnsinnig? «, schrie Marie und entriss ihrem Mann das wimmernde Kind. Schützend schlang sie die Arme um Felix, ihr ganzer Körper bebte vor Zorn.
» Hast du eine Ahnung, was so eine Maschine kostet? « , brüllte Paul zurück. » Für wen rackere ich mich denn hier ab? Nur, dass der mir alles ruiniert. «
So außer sich hatte noch niemand von ihnen Paul erlebt. Lena und Max warfen sich vielsagende Blicke zu, auch Xaver wirkte spürbar betroffen. Einzig Elisabeth schien mit der Reaktion ihres Sohnes einverstanden zu sein. Sie blickte sichtlich befriedigt in die Runde, was ihr einen tadelnden Blick ihres Mannes einbrachte. Marie aber hörte Paul schon gar nicht mehr zu und lief mit dem Jungen ohne ein weiteres Wort ins Haus zurück.
» Das ist nicht normal, Paul « , sagte Elisabeth mit eindringlicher Stimme. » Der Junge ist nicht normal. Es wird höchste Zeit, dass du etwas unternimmst. «
Doch für Paul war jedes Wort zu viel. » Lass mir meine Ruhe « , raunzte er und ließ Elisabeth stehen.
Marie hatte Felix in sein Zimmer gebracht und strich ihm nun sachte über den Kopf.
» Ist ja gut « , flüsterte sie, » ist ja gut. «
Langsam verebbte sein Weinen, schließlich beruhigte er sich. Hier in seinem Zimmer, gehalten in der von ihm geschaffenen Ordnung, geborgen in der Nähe seiner Mutter, fasste er wieder Vertrauen. Und doch spürte Marie mit jedem Wort, das sie zärtlich und leise in sein Ohr flüsterte, dass sie vor allem versuchte, sich selbst zu beruhigen. Sich Mut zusprach und sich einlullte in den Singsang ihrer leisen Beteuerungen, so wie ein Kind singt, wenn es in den dunklen Keller gehen muss. Fast jeder Tag brachte neue Kümmernisse. Es war, als ob Felix’ nahende Einschulung etwas in Gang gesetzt hatte, was nun nicht mehr zu stoppen war.
*
Früh am Weihnachtsmorgen schon hatte sich Felix unbemerkt aus dem Haus geschlichen und sich vor die Fischerhütte am Neudorfer Weiher gelegt. Er lag mit dem Rücken auf den Holzbohlen und starrte in den Himmel. Vorsichtig erst und dann immer rhythmischer stieß er kleine Atemwolken aus, die sich dunstig von der kalten Luft des frühen Morgens abhoben.
Als ihn Marie so fand, war er ganz steifgefroren, und sie schleppte ihn unter Protest vor den Ofen in der Küche – schließlich sollte Felix an diesem Nachmittag gemeinsam mit allen Familienmitgliedern den Weihnachtsgottesdienst besuchen.
Einige Zeit später lief Paul mit den beiden Großen die Landstraße zum Dorf hin voraus, Elisabeth und Xaver folgten ihnen. Den Schluss der kleinen Truppe bildeten Marie und Felix, der mechanisch neben ihr herlief. Er hüpfte nicht auf, wie Lena es in ihrem Übermut gerne machte, und er sprang nicht beiseite wie Max, wenn ihm der Gleichschritt der Familie zu fad wurde. Felix lief einfach vor sich hin, und eine blasse Anspannung hatte sich um seine Nasenspitze herum eingenistet.
*
Ein über drei Meter hoher Tannenbaum war in der Kirche aufgestellt, bis an die Spitze mit Strohsternen geschmückt. Marie stand auf der Orgelempore und beobachtete, wie ihre Familie in einer Kirchenbank links vom Altar Platz nahm und sich Lena und Max auch von der festlichen Atmosphäre nicht davon abhalten ließen, sich heimlich
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