Der kalte Himmel - Roman
gegenseitig zu knuffen und zu schubsen. Eingerahmt von ihren Großeltern und zum Mittelgang hin begrenzt durch Paul und Felix musste sich Marie aber um die beiden keine wirklichen Sorgen machen. Lenas lange Haare hatte sie heute sorgsam zu Zöpfen geflochten und Max’ lockiges Haar besonders aufmerksam gekämmt, eine Mühe, die im Alltag leicht durch jeden Windstoß und jede Rauferei zunichtegemacht wurde.
Wie ihre Familie warteten die meisten Dorfbewohner in Festtagskleidung auf die Heilige Messe.
So wie die Strohsterne alljährlich für den Weihnachtsgottesdienst von den Frauen des katholischen Häkelkreises neu aufgebügelt wurden, so hatten die Damen auch den Heiland am Kreuz für die Weihnachtsmesse frisch poliert. Solche und andere Dienste waren eine Sache für sich, die Elisabeth auch ohne Wissen von Hochwürden Huber unter den Frauen des Dorfes zu organisieren wusste.
Fast alle Plätze waren besetzt. Alex Brunner saß bereits an der Orgel und zwinkerte Marie aufmunternd zu. Der Kirchenchor drapierte sich in einem Halbrund um Rektor Meyer, der seinerseits von der Brüstung aus gesehen hatte, wie der Pfarrer gemessenen Schrittes den Altarraum betrat. Er gab Alex ein Zeichen, und sie eröffnete die Christvesper mit den festlichen Klängen von Bachs Toccata in F-Dur.
Eine Viertelstunde später, der Pfarrer hatte längst mit seiner Weihnachtsansprache begonnen, bemerkte Marie von der Empore aus, dass Felix die Kirchenbank seiner Familie verlassen hatte und sich offenbar bei den hinteren Kirchenbänken unter der Orgelempore versteckt hielt.
» Maria aber behielt all diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen « , sprach der Pfarrer und sah zum Kirchenchor hinauf. » Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott um alles, was sie da gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war. «
Rektor Meyer nickte dem Pfarrer zu und wies dem Chor seinen Einsatz. Alex begann die ersten Takte des thüringischen Volksliedes zu spielen, der Chor stimmte ein. Nun trat Marie wie verabredet ganz dicht an die Empore und begann ihr Solo anzustimmen.
So konnte sie nicht mehr sehen, wie Felix den bereits nach dem Eröffnungslied erstmals gefüllten Klingelbeutel entdeckte, den der Küster an der Hinterseite der letzten Kirchenbank befestigt hatte. Zunächst unbemerkt von der Gemeinde griff er einzelne Münzen heraus und ließ sie über die steinernen Fliesen hin zum Altarraum springen. Wie lustige Räder liefen die Markstücke durch den Mittelgang. Felix war so tief in sein Spiel versunken, dass er Meter für Meter auf Knien hin zum Altarraum rutschte und dabei beständig neue Münzen zum Springen brachte. Einige Besucher waren bereits auf den Jungen aufmerksam geworden, als auch Pfarrer Huber endlich bemerkte, was sich da nur wenige Meter von ihm entfernt auf dem Kirchenboden abspielte.
Oben auf der Empore hatte Marie immer noch nichts von all dem mitbekommen. Sie blieb völlig in ihren Gesang vertieft.
» Maria durch ein Dornwald ging. Der hatte in sieben Jahren kein Laub getragen. Jesus und Maria … «
Die Unruhe in der Gemeinde wuchs und war nun auch auf der Empore nicht länger zu überhören.
In dem Augenblick, als Marie nach unten sah, glaubte sie vor Scham und Angst in den Boden versinken zu müssen. Der Pfarrer hatte den Jungen am Arm gepackt und schleifte ihn vor den Augen der ganzen Gemeinde auf den Ausgang zu. In den Bänken blickten einige geschockt auf das Schauspiel, andere grinsten oder schüttelten den Kopf.
Paul lief ihnen hinterher.
» Sie reißen ihm ja den Arm aus! « , rief er empört und zog seinen Sohn aus den Armen des Pfarrers.
» Raus mit diesem Satansbraten « , knurrte der Pfarrer leise und warf Elisabeth einen vielsagenden Blick zu.
Paul ließ sich das nicht zweimal sagen. Schützend legte er den rechten Arm um die Schultern seines Jungen und lief mit ihm auf den Ausgang zu. Den Kopf hatte sein Sohn in den Nacken gelegt, Felix’ Schultern verkrampften sich spürbar unter seiner Umarmung. Ein Stück Holz, dachte Paul, er fühlt sich so hart an wie ein Pfosten. Eingezwängt vom Arm seines Vaters ließ Felix seinen Kopf starr im Nacken liegen und äugte hinauf in das gemalte Wolkenpanorama wie in einen fernen unbegreiflichen Himmel.
Oben auf der Empore sang Marie weiter, als ob nichts geschehen wäre. Halt durch, dachte sie, diese Genugtuung darfst du ihnen nicht geben. Halt durch. Und Marie sang.
» Was trug Maria unter ihrem Herzen? Kyrieeleison. Ein kleines Kindlein
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