Der kalte Himmel - Roman
Marie und spürte, wie sich ihr Sohn aus ihren Armen herauswand. » Ist ja alles wieder gut. «
*
Mit dem abgeschabten Koffer und der Reisetasche standen Marie und Felix am anderen Morgen an der Bushaltestelle, als ein Mann und eine Frau mit einem kleinen Jungen in der Mitte auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlangliefen.
» Flieg, Engelchen, flieg « , riefen die Erwachsenen und ließen das Kind fröhlich in ihrer Mitte schaukeln. Der Stich ins Herz kam unvermittelt und traf Marie umso heftiger. Dass Kummer körperlich weh tun konnte, erfuhr sie in diesen Sekunden, sie atmete unwillkürlich heftiger, als wolle sie ihre Brust freimachen von der Bedrückung, als könnte sie kraft ihres Atems einen Weg finden, der sie befreien würde.
Aufgewühlt, wie sie war, registrierte Marie bei der anschließenden Fahrt mit der Straßenbahn zum ersten Mal bewusst, wie viele junge Menschen hier unterwegs waren. In einer verblichenen Zeitung, die sie aus einem Regal ihres Pensionszimmers gezogen hatte, konnte sie nachlesen, dass sich Zehntausende junger Männer aus Westdeutschland durch ihren Aufenthalt in Berlin dem Dienst bei der Bundeswehr entzogen. Aber auch junge Flüchtlinge aus dem Osten überfluteten die Inselstadt, was mitunter zu aggressiven Zusammenstößen mit den alteingesessenen Westberlinern führte. Der Tod des Studenten Benno Ohnesorg bei der Anti-Schah-Demonstration am 2 . Juni 196 7 hatte das Fass zum Überlaufen gebracht, die Stimmung in der Stadt war explosiv. Letzteres hatte sie nicht aus der Zeitung, sondern von ihrer Pensionswirtin erfahren, die wie ein Rohrspatz auf die jungen Leute schimpfte, die keine Ahnung hätten, was Kommunismus bedeutete, denn die hätten ja nicht mehr erlebt, wie die Russen wirklich waren. Ihr aber bräuchte keiner was erzählen, ohne die Hilfe der Amerikaner wären sie hier doch alle verreckt.
In ihrem bisherigen Leben hatte Marie nie viel über Politik nachgedacht. Die Dinge waren, wie sie eben waren, und jeder versuchte, für sich das Beste daraus zu machen. Doch nun war sie herausgefallen aus der alten Ordnung. Mit ihrer Entscheidung, nach Berlin zu gehen, hatte sie sich unbewusst gegen die Obrigkeiten ihres Dorfes gestellt. Weder die Autorität des Schulrektors noch die kirchliche Macht des Pfarrers oder die medizinische Hoheit des Amtsarztes hatten sie von diesem Schritt abhalten können, ja sogar mit den Professoren aus München hatte sie heftig gehadert und war selbst vor einem Eklat nicht zurückgescheut. Marie fröstelte. Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde ihr klar, dass es keine Gewissheiten mehr gab. Dass ein jeder für sich selbst Verantwortung übernehmen musste.
*
Maries Finger wollten gerade die Klinke zu Niklas’ Besprechungszimmer herunterdrücken, als sie unfreiwillig Zeugin einer erregten Debatte wurde.
» So eine Chance kannst du dir doch nicht entgehen lassen. « Die weibliche Stimme klang gereizt.
» Mich interessiert aber nicht nur, wie gut bezahlt eine Stelle ist, mich interessiert auch, wie mit den Patienten umgegangen wird, was für eine Auffassung von Heilung man in der Klinik hat « , entgegnete er.
Ein langgezogenes » Jaaa … « war die Antwort.
» Ich bin mir aber nicht sicher, ob Leyendecker und ich der gleichen Ansicht sind « , fuhr Niklas fort.
» Aber darum geht es doch gar nicht « , entgegnete die weibliche Stimme mit Nachdruck, » man braucht doch erst mal eine Position, um überhaupt etwas verändern zu können. «
» Entschuldigung. « Marie hatte die Klinke heruntergedrückt, nachdem ihr vorsichtiges Klopfen ungehört geblieben war.
» Hallo, ihr beiden « , entfuhr es Niklas überrascht, als er Mutter und Sohn mitsamt ihres Reisegepäcks in seiner Tür stehen sah.
Niklas’ Verlobte war die Verärgerung über Maries Hereinplatzen anzusehen. » Wollen Sie hier einziehen? « , fragte sie pikiert.
Kommentarlos nahm Niklas Marie Koffer und Reisetasche aus der Hand und stellte sie neben die Tür.
» Wir sind rausgeflogen aus dem gemieteten Zimmer « , versuchte sie ihm diesen Auftritt zu erklären. » Wenn ich weiter in Berlin bleibe, muss ich Geld verdienen. Tagsüber will ich ja den Felix in die Klinik bringen und später wieder abholen, also kann ich erst danach arbeiten. Gestern Nacht war der Felix allein, da hat er so geweint, dass man uns gekündigt hat. «
Über die Köpfe von Mutter und Sohn warf Niklas seiner Verlobten einen vielsagenden Blick zu. Diese schlug entnervt die Augen nieder.
» Willst du zu
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