Der kalte Himmel - Roman
deinen Murmeln? « , flüsterte Niklas Felix zu, während er sich zu ihm hinunterbeugte.
Sofort durchquerte das Kind die geöffnete Tür zum Besprechungszimmer und lief auf das Glas mit den Murmeln zu. Er griff hinein und begann, die Murmeln auf dem Boden hin und her zu rollen. Für einen Moment sahen alle drei Erwachsenen zu Felix hin, der in stiller Selbstverständlichkeit und Ruhe in seine Welt getaucht war.
» Siehst du, Katja, genau das ist das Problem « , wandte sich Niklas an seine Verlobte. » Es ist einfach ein Skandal, dass die Krankenkassen die Behandlungskosten nicht übernehmen. Psychische Erkrankungen werden nicht anerkannt, alles, was nicht mechanistisch erklärbar ist, wird schlichtweg ignoriert. « Mit seinem rechten Arm bot er Marie einen Sitzplatz an. » Wir haben viel zu lange vor den Institutionen strammgestanden « , murmelte er und griff zum Telefon.
» Willst du jetzt auch demonstrieren gehen? « , fragte Katja spöttisch, schnappte sich einige Unterlagen von Niklas’ Schreibtisch und verließ sein Besprechungszimmer.
» Können Sie meinen nächsten Termin um fünfzehn Minuten verlegen? « , bat Niklas seine Sekretärin durchs Telefon. » Ja? Okay. «
Er legte auf und sah Marie besorgt an.
» Wie machen das denn die anderen Eltern? « , flüsterte sie. Ganz verzagt klang ihre Stimme, sie sprach fast ohne Ton.
Niklas überlegte und zündete sich eine Zigarette an. » Sie müssten gemeinsam aufbegehren. Alle betroffenen Eltern sollten sich zusammenschließen. «
» So wie die Studenten? « , fragte Marie verblüfft.
» Ja, so wie die Studenten « , antwortete der junge Arzt. » Und was Ihren Rauswurf angeht, vielleicht kann uns Alex da weiterhelfen. «
Marie traute ihren Ohren nicht. » Alex? Ja, ist sie denn wieder in Berlin? «
» O je, hab ich das noch nicht erzählt? « , grinste er.
Marie schüttelte den Kopf.
» Erst gestern hab ich mit ihr telefoniert, und sie hat sich auch nach Ihnen erkundigt. «
Marie lächelte still in sich hinein. Alex war in Berlin. Alles andere würde sich finden.
*
Die Rolling Stones tönten aus der riesigen Altbauwohnung in der Schlüterstraße, deren Adresse Marie von Niklas erhalten hatte. Die Tür war nur angelehnt. Unschlüssig trat Marie in den endlosen Flur und starrte auf die Plakate an den buntgestrichenen Wänden, auf denen Rockkonzerte, Demonstrationen und anderes angekündigt wurden. Ein Stapel Flugblätter lag zusammengeschnürt auf dem Fußboden, einzelne Blätter flogen lose im Raum herum oder lagerten auf einem abgeschabten roten Samtsessel, der quer in dem Vorraum zwischen der Eingangstür und dem langen Flur stand.
» Hallo? « Die Rolling Stones übertönten ihren Versuch, hier jemanden anzusprechen, und so lief Marie zögernd der Musik nach, immer weiter in den Flur hinein, bis sie durch eine geöffnete Tür in einen riesigen Raum gelangte, in dem buntgekleidete junge Menschen unterschiedlichsten Beschäftigungen nachgingen. Alex begleitete mit ihrem Klavier den Song des Plattenspielers, einige Kinder mit Masken und Federschmuck tanzten um sie herum. Junge Erwachsene in langen Gewändern schrieben vor sich hin, tranken Tee oder unterhielten sich. Marie starrte verblüfft in den Raum hinein, als Alex sie plötzlich bemerkte und ihr Spiel sofort unterbrach.
» Marie! « Die Organistin sprang vom Klavierhocker hoch, nach wenigen Schritten stand Marie vor ihr. Beide umarmten sich. Alex zog sie aus dem vollen Raum hinaus in die Wohnküche. » Hey! Hab ich dich vermisst! «
Während sie einen Wasserkessel auf den alten Gasherd setzte und die Flamme entzündete, steckte sie sich eine Zigarette zwischen die Lippen. » Also, das mit der Unterkunft ist überhaupt kein Problem « , murmelte sie und griff nach einem weiteren Streichholz. » Ihr könnt hier wohnen « , sagte sie und blies den Rauch der nun entzündeten Zigarette in kleinen Kringeln durch den Raum.
Maries Gesicht war die Skepsis anzusehen.
» Keine Widerrede « , legte Alex in dem autoritärsten Ton nach, zu dem sie fähig war. Beide Frauen mussten lachen. Alex goss den Tee in bauchige Keramikbecher und legte das Sieb in den Abguss. » Niklas und ich sind da einer Meinung « , sagte sie. » Die Betroffenen müssen sich zusammentun, sonst bewegt sich gar nichts. Mir ist das auch ein Anliegen. «
Marie sah sie forschend an. » Was? «
» Dass psychisch Kranke nicht länger diskriminiert werden « , antwortete Alex leise.
*
In ihrem VW -Bus mit der aufgemalten
Weitere Kostenlose Bücher