Der kalte Himmel - Roman
» ich kann es ja versuchen. «
» Ja, was denn nun? « , meinte der Mann genervt. » Kannste oder kannste nicht? «
» Na ja, ich hab halt einen Sohn, und der muss tagsüber … « , setzte Marie erklärend an, da fiel ihr der Wirt brüsk ins Wort.
» Interessiert mich nicht, verstehste? Deine Geschichten interessieren mich nicht. Entweder du bist pünktlich oder du bist draußen! «
Erregt tunkte er die Gläser in das Spülwasser, das hoch aufschäumte und bis zu Maries Kragen hochspritzte.
» Was zahlen Sie denn? « , fragte sie leise.
Ein spöttisches Grinsen überzog sein Gesicht. » Das Übliche, Mädchen. Rockefeller bin ich nicht. «
» Also abgemacht « , stammelte Marie.
» Wenn du um fünf auf der Matte stehst « , gab er zurück und sah sie eingehend an. » Aber hübsch dich mal ein bisschen auf. Das heulende Elend haben die Leute schon zu Hause. «
*
Ein scharfer Ostwind wehte über die schneebedeckten Felder, als Paul vom offenen Holzgiebel der Scheune aus einen prüfenden Blick auf den mit Jutesäcken gefüllten Laster warf. » Das war der Letzte « , rief er dem Fahrer Franz im Führerhaus zu, der den Bauern im Dorf bei ihren Transporten aushalf.
Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete Paul, wie die Stahlwinde vom Scheunenboden aus den Hopfensack auf die Ladefläche des Hanomags hievte. Kaum war die Ladung vertäut, warf der Hilfsarbeiter den Motor an und fuhr ruckelnd über den noch immer schneebedeckten Feldweg vom Hof aus in Richtung der Landstraße.
» Da fahrt er dahin, der Hopfen « , seufzte Xaver, während er mit gekrümmtem Rücken den Scheunenboden fegte. » Für den wir einen viel besseren Preis gekriegt hätten, wenn du auf mich gehört hättest. «
Xavers gichtige Finger umklammerten den Besen. Er sah zu seinem Sohn hinüber, doch der drehte ihm den Rücken zu. Die ohnehin rissige Haut von Pauls Fingern war aufgeplatzt, seine Arme taub vor Anstrengung. Mit verkrampften Händen schloss er die Luke. So, das war es. Seine hochfahrenden Träume waren zu Staub zerbröselt, der sich fein und grau in seinen Poren eingenistet hatte und sein Gesicht zur Maske werden ließ. Mit den Füßen trat er nach einem Fetzen Jute und schob ihn unter einen Balken. Seine ohnehin schmalgeschnittenen Lippen hielt Paul fest aufeinandergepresst. Der Muskel unterhalb seiner Unterlippe war so fest wie Holz.
*
Als Marie endlich wieder in Niklas’ Besprechungszimmer saß und durch die Glaswand beobachten konnte, wie der Arzt mit ihrem Jungen arbeitete, spürte sie sofort, dass Felix ihre Abwesenheit kaum bemerkt hatte. Er trug seinen beigen Rollkragenpullover, seine Hose wurde von Hosenträgern festgehalten, die Marie noch am Morgen nachgezogen hatte, damit sie ihm beim Spielen nicht über die Schultern rutschten. Solche kleinen Veränderungen machten ihn nervös, ja, sie konnten die Arbeit eines ganzen Vormittages ruinieren. Doch nichts dergleichen war geschehen. So ruhig, so selbstverständlich sortierte Felix ein Zahlen-Memory vor sich hin, als ob er nie etwas anderes gemacht hätte. Ohne Scheu hob er seine Lieblingszahlen hervor, verwarf andere und gewährte dem Arzt damit einen unverstellten Einblick in seine Vorstellungswelt. Niemals zuvor hat Felix einen fremden Menschen so nah an sich herangelassen, dachte Marie, und niemals zuvor war er bereit gewesen, andere an seinen Vorstellungen teilnehmen zu lassen.
» Die 23 magst du gern « , sagte Niklas und beobachtete aufmerksam, wie Felix seine Zahlen sehr gezielt auswählte und mit seinen kleinen Fingern deren Abstände sorgsam auffächerte. 1 , 3 , 5 , 7 , 11 , 13 , 17 , 1 9 , 23 .
» Das sind Primzahlen « , meinte der junge Arzt nachdenklich zu dem Jungen, » warum magst du denn diese Zahlen besonders gern? «
» Meine Zahlen kann man immer nur durch sich selbst teilen und durch die Zahl eins« , erwiderte Felix leise.
» Du meinst, deine Zahlen gehören sich ganz allein? « , hakte Niklas nach.
» Ja « , stellte Felix mit entwaffnender Bestimmtheit fest. » Meine Zahlen wollen am liebsten allein sein. «
*
Später, im stumpfen Licht des Pensionszimmers, beobachtete Marie, wie Felix auf dem Rücken liegend ein Kissen zwischen seinen Füßen hin- und herschubste, es nach oben warf und wieder einfing. Schon um vier Uhr nachmittags hatte sie ihm den Schlafanzug übergestreift und die Räume verdunkelt, ein hilfloser Versuch, das Zeitgefühl des Jungen zu überlisten. Ihr blieb keine andere Wahl. Wenn sie Geld verdienen wollte, musste sie
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