Der kalte Himmel - Roman
Sonnenblume transportierten die Frauen noch am gleichen Abend den Koffer und die Reisetasche, die Marie für sich und ihren Sohn aus der Hollertau mitgebracht hatte, in die Wohngemeinschaft.
In der Küche saßen Studenten beim Tippen, auf dem Plattenspieler lief Jimi Hendrix.
» Das sind Marie und Felix « , verkündete Alex, als sie ihren bestickten Ziegenfellmantel abstreifte, » die ziehen in das leere Zimmer. «
Auf die fragenden Blicke einer jungen Frau mit langen blonden Zöpfen reagierte Alex sofort. » Till kommt ja wohl nicht wieder « , erklärte sie resolut und lächelte Marie und Felix zuversichtlich an. » Mögt ihr einen Tee? «
Marie war gerade dabei, ihre wenigen Kleidungsstücke in ein offenes Regal zu sortieren, als die junge Frau aus der Küche nackt und völlig unbefangen den langen Flur entlanglief. Um ihre frisch gewaschenen Haare hatte sie ein Badetuch geschlungen, in ihrer rechten Hand hielt sie eine dampfende Teetasse, und sie lächelte vage in das Zimmer von Marie hinein. Die gab sich Mühe, der Nackten nicht hinterherzustarren.
Alles war anders hier, und obwohl Marie noch nie über diese Dinge nachgedacht hatte, wusste sie instinktiv, dass sich diese jungen Leute um sie herum gerade von einigem befreiten, was ihr Leben und das unzähliger anderer deutscher Familien zusammenhielt, ihm Richtung gab, aber auch in Pflichten band, die einen zu ersticken drohten, wenn die Dinge nicht so liefen, wie man sich das erhoffte.
Vor fünf Jahren hatte sich eine Frau aus Maries Dorf auf die Gleise des Regionalzuges nach Ingolstadt gelegt. Jetzt stellte sich Marie vor, wie die Frau bis zur nahen Kreisstadt mit dem Bus gefahren war, um ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Welche Verzweiflung musste ein Mensch in sich tragen, um so etwas zu tun? Sich von keinem Sonnenstrahl, keinem Vogelzwitschern, keinem Zuruf eines Nachbarn zurückhalten zu lassen, von diesem letzten endgültigen Ziel, der Auslöschung seiner selbst. Marie hatte das nicht verstanden damals, nicht begriffen, wie jemand sein Leben so wegwerfen konnte. Damals wusste ich nicht, was Verzweiflung ist, dachte sie nun.
Was Kummer war, das wusste sie dagegen auch damals schon. Der Tod ihrer Mutter hatte sie als junges Mädchen in ihren Grundfesten erschüttert, aber auch in der schlimmsten Not war in ihr immer eine Hoffnung gewesen, ein Vertrauen in die Zukunft, ein Vertrauen in das Leben selbst. In diesem Vertrauen hatte sie ihre Familie gegründet, hatte alles, was die Tage mit sich brachten, angepackt und irgendwie immer einen Weg gefunden, auch wenn das Leben eines Hopfenbauern und seiner Familie weiß Gott kein Zuckerschlecken war. Doch hier in Berlin fühlte sie sich allein, abgeschnitten von all den unsichtbaren Fäden, die sie mit ihrem Mann und ihrer Familie verbanden. Abgeschnitten von dem, was ihr Rahmen und Richtung gegeben hatte.
Wie die Haut der jungen Frau geschimmert hatte. Dieses Bild ließ Marie nicht los. Einfach nackt durch eine Wohnung zu spazieren, mein Gott, nie im Leben hätte sich Marie das zu Hause getraut. Ja, wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie selbst in den intimsten Momenten mit Paul immer ein Kleidungsstück anbehielt, nie völlig nackt war. Warum eigentlich? Auch darüber hatte sie nie nachgedacht. Es war einfach so. Vieles war einfach so. Aber warum sollte es nicht auch einmal anders sein? Die Sache mit Felix hatte ihr die Augen geöffnet. Das, was war, musste nicht unbedingt das Beste sein. Aber warum sollte man nicht das Beste wollen? Warum nicht das Bestmögliche versuchen? Warum nicht Fragen stellen, wenn das, was man vorfand, so offenkundige Mängel aufwies?
Marie ließ sich auf das frischbezogene Bett sinken. Erst jetzt fiel ihr auf, dass Felix nicht mehr bei ihr war. Er hatte ganz still und heimlich den Raum verlassen, sie hatte es nicht bemerkt.
Die Holzdielen der Wohnung waren über die Jahrzehnte nachgedunkelt und wiesen unzählige Kratzspuren auf. Unsicher lief Marie den schier endlosen Altbauflur entlang und hatte bestimmt schon acht, meist geöffnete oder angelehnte, Türen hinter sich gelassen, als sie endlich ihren Sohn entdeckte.
Als ob es die selbstverständlichste Sache der Welt war, hatte sich Felix in eine Gruppe von Kindern hineinbegeben, von denen jedes mit etwas anderem beschäftigt war. Zwei Kinder bemalten eine Wand mit Wasserfarben, andere zogen an hölzernen Mikadostäben, lachten viel und wetteiferten mit ihrem Geschick um die meisten Stäbe. Ein blonder Junge
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