Der kalte Kuss des Todes
in ärztliche Behandlung! Er gehört nicht ins Gefängnis, sondern in eine psychiatrische Klinik!«
Kolossow legte die Krankengeschichte auf den Schreibtisch und blätterte darin. Sein Blick blieb an dem unbekannten Wort »Astrozytose« hängen.
»Wann hat deine Familie bemerkt, dass Stepan sich verändert hat?«, fragte er müde.
»Von den anderen weiß ich es nicht. Ich persönlich habe es praktisch sofort gemerkt, gleich als sein Fieber heruntergegangen war, noch auf der Infektionsabteilung.« Dmitri saß mit hängenden Schultern da. »Unmittelbar darauf bekam er heftige Migräneanfälle. Der Arzt sagte, die Trichinellose führe oft zu unvorhersehbaren Komplikationen. Dann geschah irgendetwas mit seinen Augen. Es war keine Verschlechterung des Sehvermögens . . . eher im Gegenteil. Und dann fing es mit der Schlaflosigkeit an. Die Ärzte machten eine Computertomographie.«
Kolossow sah dies alles in der Krankheitsgeschichte bestätigt.
»Als man ihn einmal zu einer Therapie brachte, versuchte er plötzlich, sich loszureißen. Der Arzt sagte, es sei eine Art hysterischer Anfall gewesen. Stepan habe versucht, die Schwester in den Arm zu beißen . . . Die Ärzte hatten keine Erklärung, wodurch dieser Anfall hervorgerufen worden war.« Dmitri rieb sich mit der Hand übers Gesicht. »Aber mir war bereits klar, dass mit Stepan irgendwas nicht stimmte. Sein Blick . . . er schielte. Aber das war nur ab und zu und nur für kurze Zeit. Dann war er wieder wie früher.«
»Schädigung des peripheren Nervensystems«, las Kolossow in der Krankengeschichte. »Wiederholte Untersuchungen . . . Überweisung in die Neurologie empfohlen. . .« Er blickte Dmitri an. »Und wurde er dorthin überwiesen?«
»Ja. Die Ärzte selbst haben es veranlasst. Sie konnten keine eindeutige Diagnose stellen. Und in der Neurologie gibt es Spezialisten.«
Kolossow nickte und wandte sich wieder der Krankengeschichte zu: »Untersuchung der Hirnfunktionen . . . partielle Schwächung der Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit . . . Erinnerungsvermögen intakt. . . Urteilsvermögen und Abstraktionsfähigkeit entsprechen der Norm . . . Familiengeschichte in Bezug auf Nervenkrankheiten und psychische Probleme ohne Auffälligkeiten . . . erneute Computertomographie des Gehirns durchgeführt. . .«
Erst einen Tag zuvor hatte Kolossow sich bei einem Experten des Serbski-Instituts über die Ergebnisse der Tomographie von Basarows Gehirn erkundigt. Der Spezialist hatte erklärt: »Es wurde eine starke Vergrößerung des Raums unter der Spinnwebenhaut festgestellt. Die Untersuchungen des Nervengewebes zeigen eine ungewöhnlich ausgeprägte Astrozytose mit Degenerationszonen. Das heißt, es liegt eine abnorme Korrelation der verschiedenen Typen von Nervenzellen vor – ein eindeutiger Beweis für eine Störung der Hirnfunktionen.«
»Chronisches Hirnsyndrom auf Grund einer Komplikation nach überstandener Trichinellose« – so lautete Basarows Diagnose. Eine Behandlung mit Medikamenten war verordnet worden. Mühsam, Silbe für Silbe, entzifferte Kolossow den Namen des Präparats, das man dem »Werwolf« in hohen Dosen – fünfzig Milligramm drei – bis viermal täglich, eine wahre Rosskur – verabreicht hatte: Chlorwasserstoffthioridazin . . .
Kolossow legte die Krankengeschichte beiseite. Astrozytose also – Degeneration von Nervenzellen. Und der Fachmann hatte am Vortag bestätigt, dass eine Störung der Gehirnfunktionen der Auslöser für eine psychische Krankheit sein konnte. Unter den Dokumenten befand sich auch das Urteil des Arztes, der Basarow in der Neurologie beobachtet hatte: »Symptome: Patient leidet nach eigener Aussage unter schubweisen akuten Unruhezuständen, in denen er von der Idee besessen ist, ein Raubtier zu sein, ein Bär. . . das Produkt kindlicher Fantasien. Verspürt zeitweise ein starkes, unkontrolliertes Verlangen, Tiere im Wald zu jagen und zu essen. Neigung zu sexuellen Perversionen. Suizidgefährdet.«
Aber nirgends ein Wort über potenzielle Aggressivität Menschen gegenüber. Andererseits – war nicht das »starke Verlangen, Tiere zu jagen und zu essen«, Aggression in Reinform?
»Ist es wahr, dass Stepan nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus immer wieder euren jüngeren Bruder und seine Verlobte geschlagen hat?«, fragte Kolossow. Während er in den ärztlichen Gutachten gelesen hatte, hatte Dmitri geschwiegen und aus dem Fenster geblickt, wo die Sonne sich gleißend in den unzähligen Glasscheiben des
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