Der kalte Kuss des Todes
regten ihn die Ereignisse im Kosovo auf, von denen er im Radio gehört habe, das sich in seiner neuen Zelle befand, und das nicht zufällig.
Du liebe Güte, dachte Kolossow, ausgerechnet für den Kosovo interessiert sich dieser Verrückte.
Am Abend las er Chalilows Bericht – darin stand in etwa das Gleiche. Der »Werwolf« war ein schweigsamer Zellengenosse. Nur nachts stand er manchmal auf und lief monoton im Kreis durch die Zelle, wobei er mit den nackten Füßen weich auf den eiskalten Betonfußboden tappte. Wie ein Schatten oder ein Tier im Käfig.
Ein Treffen der Zwillingsbrüder, das Kassjanow gestattet hatte, brachte für die Ermittler praktisch keine Ergebnisse. Dmitri schwieg über das Gespräch mit dem Bruder. Es tat einem in der Seele weh, ihn anzuschauen, als die Wache Stepan wieder abführte. Kolossow drang nicht in ihn: Wenn Dmitri nicht reden wollte, konnte er es nicht ändern; irgendwelche Lügen wollte er nicht hören.
Auch Katja erfuhr von dem Wiedersehen der Zwillinge. Eines Tages richteten die Kollegen ihr aus, ein Mann habe mehrmals angerufen und nach ihr gefragt. Katja war ziemlich sicher, dass es sich bei dem Anrufer um Sergej gehandelt hatte. Er war nach Stepans Festnahme sehr aufgeregt und besorgt gewesen. Von seinen eigenen Angehörigen und durch die Familie Krawtschenko wusste er, dass man in den Kreisen, in denen die Basarows verkehrten, Stepans Verhaftung »als Willkür und Verhöhnung einer berühmten Familie, die ohnehin schon viel Kummer hat«, betrachtete. Auf Bitten von Verwandten und Bekannten hatte Sergej immer wieder bei Kolossow angerufen. Sie trafen sich, und Kolossow zeigte ihm das Band von der Festnahme sowie einige Aufnahmen von den Orten, an denen man die Leichen von Grant und Jakowenko gefunden hatte.
Der meldete sich um Viertel vor sechs erneut, als Katja gerade nach Hause gehen wollte.
»Katja, ich möchte Sie sehen. Ich bin ganz in der Nähe, am Zoologischen Museum.« Es war Dmitri. Kein »Guten Abend«, kein »Hallo«. »Ich möchte Sie sehen« klang wie ein Befehl. Katja fügte sich, ohne überflüssige Fragen zu stellen. Immerhin hatte sie dem Zwilling viel zu verdanken.
Dmitri sah so erbärmlich aus, dass es Katja vor Mitleid einen Stich ins Herz gab. Er fuhr mit ihr in die Bar an der Metrostation »Teatralnaja«. Die Bar war teuer und halb leer; vor acht Uhr abends war hier nichts los. Dmitri bestellte für sie beide das erstbeste Getränk auf der Karte – Tequila. Er fragte nicht einmal, ob Katja diesen Agavenschnaps überhaupt mochte.
Sie betrachtete seine Hände: kräftig, muskulös, mit knotigen, dick hervortretenden Adern. Am breiten Handgelenk trug er eine goldene Armbanduhr.
»Katja, ich war heute bei Stepan.« Dmitri ergriff sein Glas, hielt es in der Hand und stellte es wieder ab, ohne einen Schluck getrunken zu haben. »Dieser Kassjanow hat mir ein Treffen mit ihm erlaubt. Damit ich ihn überrede, dass er gesteht. Er sagte, das würde die Sache beschleunigen. Dann würde man Stepan ins Krankenhaus verlegen und behandeln.«
Katja schwieg abwartend.
»Und ich habe es versucht, Katja. Ich habe es ehrlich versucht.«
»Haben Sie ihn gefragt, wo Lisa ist?«
»Ja. Und er sagte, dass ich. . . dass ich ein Stück Scheiße sei.« Dmitri starrte auf seine glänzenden, eleganten Schuhe. »Nicht einmal mir, seinem Zwillingsbruder, will er es sagen.«
»Haben Sie denn gehofft, er würde es ihnen anvertrauen?«
Dmitri zuckte mit den Schultern. »Das sind doch alles erbärmliche Intrigen, Katja, faule Fische . . . Er ist krank, und sie wissen, was für eine Krankheit er hat. Warum tut man ihm das an?«
Eine so naive Frage aus dem Mund dieses gewieften Geschäftsmanns wirkte so seltsam, ja kläglich, dass Katja wieder Mitleid verspürte.
»Sie haben jetzt kaum noch Einfluss auf diese Sache, Dmitri.«
Er sah sie mit einem seltsamen Blick an. »Na, und wenn schon.«
In seinen Augen war ein anderer Ausdruck erschienen, der Katja mit plötzlicher Unruhe erfüllte.
»Ich bin ganz allein«, sagte Dmitri. »Niemals hätte ich gedacht, dass es so weit kommen könnte . . .«
Sie spürte seine schwere, heiße Hand auf der ihren. Entschlossen schob er das volle Glas beiseite.
»Lass uns zu mir fahren. Ich fühle mich so schrecklich allein. Ich kann nicht mehr. Komm mit, Katja.« War das nun eine Bitte oder ein Befehl? Sein Tonfall war schwer zu deuten. »Oder ist der Bruder eines irren Mörders inakzeptabel für dich?« Er blickte sie fast schon verächtlich
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