Der kalte Kuss des Todes
Wien, und in Katjas Wohnung am Frunse-Kai kehrten augenblicklich Leere und Langeweile ein. Über Sladkich und Grant dachte sie kaum noch nach. Schließlich aber war sie diesen Trübsinn satt und wurde böse auf sich selbst – Wadim kam ja schließlich zurück und passte schon auf sich auf. Außerdem hatte er beim Abschied durchaus nicht gramgebeugt gewirkt. Stattdessen hatte er sie mit jeder Menge Aufträge eingedeckt: Vergiss das nicht, kauf dies, kauf das, komm dort nicht zu spät.
Der unangenehmste Auftrag fiel ausgerechnet auf den freien Samstag am Wochenende. Ein Auftrag, den Katja nicht hatte ablehnen können. Niemand anders als Wadims Vater hatte sie nämlich gebeten, die Gedächtnisfeier für Kirill Basarow zu besuchen und seinen Angehörigen im Namen der Familie Krawtschenko Mitgefühl und Beileid auszusprechen. Er hatte sie angerufen, über seine Gallensteine geklagt und sie dann gebeten – »natürlich nur, wenn es dir nichts ausmacht« – , ihn bei der Feier zu vertreten. »Ich selber fühle mich nicht in der Lage, meinem Freund die Ehre zu erweisen, Katja. Und Wadim ist verreist. So musst du es für uns tun – Blumen bringen und in unser aller Namen sprechen. Wenn keiner von unserer Familie erscheint, wäre das ausgesprochen unhöflich. . .«
Kurz, Katja konnte ihm diese Bitte nicht abschlagen. Wadims Vater war immer gut zu ihr gewesen. Außerdem wurden in der Familie Krawtschenko alle diese Konventionen äußerst penibel beachtet. Auch Sergej würde zur Gedächtnisfeier kommen; er vertrat seine Großmutter, die mit Kirill Basarows Witwe befreundet war. Von ihm erfuhr Katja, dass die Feier nicht in der Moskauer Wohnung des »Patriarchen« stattfinden sollte, sondern auf dem Land, auf seiner Datscha in Uwarowka, die die Kinder von ihm geerbt hatten. Mein Gott, so eine weite Fahrt zu völlig unbekannten Leuten, dachte Katja missmutig. Als sie dann noch hörte, dass Sergej schon um acht Uhr morgens losfahren wollte, und das an einem Samstag, sank ihre Laune endgültig auf den Tiefpunkt.
»Nichts zu machen, Katja«, erklärte Sergej ihr am Telefon. »Ich habe mit Stepan schon vor einer Woche verabredet, ihn zu besuchen. Seine Survival-Schule ist im ehemaligen Erholungsheim in Otradnoje einquartiert, nur einen Steinwurf von Uwarowka entfernt. Das wird ein wichtiges Geschäftstreffen für mich, verstehst du. Wenn wir uns einig werden, bekommt unsere Firma einen großen Auftrag für die Lieferung von Spezialausrüstung.«
Im letzten Jahr hatte Sergej sich mit viel Energie den Geschäften des Reisebüros »Moskauer Geographischer Club« gewidmet, dessen Mitinhaber er bis dahin nur nominell gewesen war. Katja wartete ständig auf die Nachricht vom unvermeidlichen Bankrott seiner Firma, aber irgendwie hielt sie sich über Wasser. Gewinne waren allerdings weit und breit nicht in Sicht. Auf alle Vorhaltungen Katjas hatte Sergej immer die gleiche Antwort: »Wir bieten nun mal Abenteuerreisen der besonderen Art an. Vorläufig läuft noch nicht alles rund, aber wer hat heutzutage keine Probleme? Mein Beruf hat jedenfalls Perspektive. Jetzt geht das Diving-Geschäft gerade erst so richtig los. Wir knüpfen Kontakte mit afrikanischen Firmen und planen ein Projekt mit Ballonfahrten. Hör dir mal an, was ich mir dazu überlegt habe . . .«
Katja schüttelte zu all seinen Ideen meist nur skeptisch den Kopf.
Mit tiefem Seufzer stellte sie den Wecker auf sechs Uhr morgens. Sie war so müde, dass sie das Gefühl hatte, sie bräuchte mit dem Kopf das Kissen nur zu berühren, um sofort einzuschlafen. Aber so war es nicht. Ob es an der Schwüle lag oder an der leeren, dunklen Wohnung – sie konnte nicht schlafen. Sie sah plötzlich wieder die verfallene Datscha und den verwilderten Garten, den sie zusammen mit Kolossow besichtigt hatte, den Jasmin unter den Fenstern und die schwarzen, übel riechenden Flecken am Zaun. Weshalb hatte er sie eigentlich mit zum Tatort genommen? Und warum spürte sie nicht wie Kolossow dieses ungreifbare »etwas ist faul«, das ihn offensichtlich immer stärker beunruhigte? Früher hatte ihre Intuition sie nie im Stich gelassen. . .
Schon am frühen Morgen war es heiß und dunstig. Am Himmel zeigten sich Fetzen grauer, zottiger Wolken. Von der Sonne beschienen, wirkten sie wie die Vorboten eines Orkans. Katja verspürte bei ihrem Anblick eine unbestimmte Unruhe.
Sergej erschien pünktlich zur verabredeten Stunde am Frunse-Kai. Unterwegs warf er hin und wieder einen Blick in den
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