Der kalte Kuss des Todes
Rückspiegel auf Katja. Sie hatte sich hinter ihn gesetzt und hielt vorsichtig einen Strauß feuchter roter Rosen auf dem Schoß, der in knisterndes Zellophan verpackt war. An diesem Morgen war sie ungewöhnlich schweigsam und nachdenklich.
»Fühlst du dich nicht gut, Katja?«
»Es ist so drückend.«
Sergej betätigte den Knopf des Fensterhebers und ließ die Scheibe an seiner Seite herunter, damit Katja nicht im Zug sitzen musste. Dann sagte er: »Falls du dir wegen Wadim Sorgen machst. . . Er ist gut angekommen und ruft dich bei erster Gelegenheit an.«
»Du lieber Himmel.« Katja schnaubte. »Sehe ich etwa aus wie die verlassene Penelope?«
»Aber irgendwas beunruhigt dich.« Sergej zuckte die Achseln: Wenn du nicht reden willst, auch gut.
Katja schaute zum Fenster hinaus. Nein, Wadim hatte nichts damit zu tun. Ihm hatte sie von Mittwoch bis Freitag nachgetrauert; das war genug. Aber an diesem Morgen, am Samstag, als sie gerade fieberhaft durch die Wohnung rannte, um ihre Sachen für Uwarowka zu packen, hatte das Telefon geklingelt. Es war Lisa Ginerosowa, die nicht mehr schlafen konnte. Sie wollte wissen, ob Katja »zum Trauern« komme.
»Andrej Krawtschenko hat angerufen und gesagt, er könne nicht kommen, dafür aber du . . .« Als Katja bejahte, freute Lisa sich.
»Gut, dass du kommst. Wenigstens ein lebendiges Gesicht bei dieser trübsinnigen Veranstaltung. Wir wollen gegen drei losfahren, und ich dachte, ich frage dich rechtzeitig . . .«, sie stockte kaum merklich, »ob du nicht mit uns zusammen fahren willst. Dmitri nimmt mich mit. Er fährt noch ins Büro, und dann holt er mich unterwegs ab. Er hat gesagt, wenn du Lust hast, könntest du doch mit uns . . .«
Aha, so ist das, dachte Katja und erklärte, sie habe sich schon mit Sergej verabredet. Doch Lisa hatte noch etwas auf dem Herzen.
»Ich muss dich um Rat fragen, Katja, aber ich möchte, dass du zuerst selbst alles siehst. . .« Wieder zögerte sie. »Es geht um Stepan. Ich habe dir ja schon beim letzten Mal von ihm erzählt. Er ist ein komplizierter Mensch. Manchmal ist es sehr schwierig mit ihm, und ich. . . Ich wüsste gern, was du davon hältst. . .«
Lisas verworrene Worte und ihr Tonfall hatten Katja aufhorchen lassen: Was ging da vor? Das alles sah Lisa gar nicht ähnlich. Abgeholt und mitgenommen vom Zwillingsbruder Dmitri. Und wo steckt der heiß geliebte Bräutigam? Wieso kümmert der sich nicht um seine Braut?
Dmitris Sonnenbrille hatte Katja sofort in ihre Handtasche gesteckt, um sie dem Burschen zurückzugeben, und damit hatte sich die Sache. Dass Dmitri Basarow sich für sie interessierte, hatte Katja schon auf dem Friedhof gespürt. In solchen Dingen haben Frauen ein untrügliches Gespür. Aber dieses Interesse hatte sie nicht gefreut, sondern im Gegenteil geärgert. Plötzlich verspürte sie wieder einen heftigen Widerwillen, nach Uwarowka zu fahren. Und jetzt auch noch Lisa mit ihrer trüben Stimmung und Sergej mit seiner betulichen Fürsorglichkeit. . .
Sie fuhren aus Moskau heraus, die neue, vor kurzem instand gesetzte Staro-Russki-Chaussee hinunter. An einigen Stellen kam es Katja so vor, als wäre sie schon mal hier gewesen oder wenigstens vorbeigefahren – vor noch gar nicht langer Zeit. Aber sie wusste um ihren schlechten Orientierungssinn, selbst in ihr bekannten Straßen, gar nicht zu reden von irgendeiner Landstraße außerhalb der Stadt. Sie kamen in einen Wald. Die Chaussee war wie leer gefegt.
»Fahr ein bisschen langsamer, Sergej. Hier ist die Luft so schön frisch.« Katja ließ auch das Fenster auf ihrer Seite herunter. »Hier müsste man leben können – in so einem nach Tannennadeln duftenden Paradies. Wir werden in unserem Hexenkessel noch ersticken.«
»Stepan ist derselben Meinung«, antwortete Sergej. »Natur, Freiheit, der Mensch und die Erde.«
Katja lehnte sich zum Fenster hinaus, horchte. Was war das? Irgendwo in der Nähe bellten wie rasend Hunde . . .
»Müssen wir noch weit?«
»Nur noch vier Kilometer.« Sergej warf einen Blick auf die neben ihm liegende Straßenkarte. »Stepan hat gesagt, wir müssen erst am Flussufer entlang, in das Wäldchen zur Siedlung und. . .«
Er verstummte und trat abrupt, mit einer instinktiven Bewegung, auf die Bremse. Katja, die ein solches Manöver nicht erwartet hatte, stieß mit der Brust schmerzhaft gegen den Vordersitz. Zuerst konnte sie nichts erkennen, aber dann . . .
»Mein Gott, Sergej, du hast ihn überfahren!«
»Nein, nein, er ist auf die
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