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Der kalte Kuss des Todes

Der kalte Kuss des Todes

Titel: Der kalte Kuss des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanowa
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Sergej zog dem Jungen den linken Turnschuh aus und betastete seinen geschwollenen Knöchel, der nackt und schmutzig war – Socken oder Kniestrümpfe trug er unter seiner Adidas-Hose nicht. »Die rühren dich nicht mehr an, hab keine Angst.«
    »Dreckskerle.« Der Junge gewann unerwartet die Gabe, zu sprechen, zurück. »Hast du ’ne Fluppe, Onkel? Oder gib mir gleich zwei. Eine zieh ich mir sofort durch, die andere is’ auf Vorrat. . . Ist das aus Silber da bei dir? Echtes Silber?« Er stieß mit seinem schmuddeligen Finger auf den Krawattenhalter an Sergejs Hemd.
    »Fluppe?«, fragte der verblüfft. »Was meinst du?«
    »Na, ’ne Zigarette, was denn sonst? Seit zwei Stunden hab ich keine mehr gequalmt.«
    Sergej reichte dem Knirps eine Schachtel Zigaretten. Der klaubte sich die halbe Packung heraus. Eine Zigarette steckte er sich zwischen die Lippen, die anderen schob er sich unters Hemd, fuhr suchend in die Hosentasche, zog ein Feuerzeug heraus und zündete sich die Zigarette an.
    »Dreckskerle«, wiederholte er. »Die hätten mich nie erwischt, wenn eure Blechkiste nich’ gewesen wär.«
    In seiner Stimme lag ein leichter südlicher Akzent, obwohl er ein fließendes Russisch sprach. Ja, natürlich – ein Zigeunerjunge. Er sah genauso aus wie seine Stammesgenossen, die sich in der Metro und in den Vorortzügen herumtrieben – laut, schmutzig, manchmal dreist und unverfroren, manchmal verloren und kläglich wie alle Kinder, die man in der Welt der Erwachsenen ihrem Schicksal überlässt.
    »Die Hunde haben dich doch nicht verletzt?«, fragte Katja-
    »Au, au, mein Bein tut so weh! Ach, Tante, ham Se nich’ ’n bisschen Kleingeld? Nur für ’ne Fanta . . .«
    »Wo wohnst du?« Sergej wechselte einen raschen Blick mit Katja. Sie konnten diesen zynischen kleinen Bettler ja nicht gut auf der Straße liegen lassen. »Wo sind deine Eltern? Wir bringen dich zu ihnen, ja?«
    »Ich zeig euch den Weg. Ist das deine Karre, Onkel? Schäbige Kiste. Du solltest mal sehen, was für ’nen schicken Schlitten mein Alter fährt!«
    »Dein Vater?« Sergej ließ den Motor an. »Das musst du uns zeigen. Sag mal, wie heißt du eigentlich?«
    Katja war darauf vorbereitet, hinter der Straßenbiegung ein typisches Nomadenlager zu erblicken: gestreifte Federbetten im Gras, unzählige laut krähende Kinder, verrußte Teekessel über Lagerfeuern, Zigeunerinnen in türkischen Röcken und Strickjacken, säuerlicher Gestank von Urin, Schweiß und Benzin.
    Doch die Straße führte Stattdessen zu einer ganz gewöhnlichen Moskauer Vorortsiedlung. Sie fuhren über die Hauptstraße, die zugleich die einzige war, und gelangten auf eine große Baustelle. Ein Stück davon entfernt, am Rand des Waldes, der dunkelblau vor dem Horizont schimmerte, standen nagelneue Häuschen aus Backstein mit Ziegeldächern. Der Zigeunerjunge deutete mit dem Finger auf den größten der Neubauten, ein Haus mit Spitzdach und Bogenfenstern im ersten Stock.
    Erst als sie auf das Tor der gewaltigen Umzäunung Zufuhren, die das beeindruckend große Grundstück umschloss, fiel es Katja wieder ein: Dies hier war das so genannte Zigeunerdorf. Auf der Straße sah man hauptsächlich Frauen und Kinder. Sergej hob den Jungen aus dem Auto, trug ihn zum Tor und klopfte. Es vergingen etwa zwei Minuten, dann wurde die Pforte weit aufgerissen und zwei junge Zigeunerinnen kamen herausgeeilt. Sie schnatterten mit dem Jungen in ihrer Sprache: Offenbar erzählte er ihnen von seinen Abenteuern. Dann wand er sich aus Sergejs Armen, stützte sich auf die beiden Frauen und hüpfte auf einem Bein zum Haus. Die Pforte schlug zu. Sergej und Katja drehten sich um, wollten zum Auto zurück.
    »Mädchän – jungär Mann, warten Sie!« Hinter dem Zaun ertönte eine rollende Bassstimme. »Einän Augänblick.«
    Wieder ging wie durch ein Sesam-öffne-dich die Pforte auf, und ein großer, würdevoll aussehender alter Zigeuner erschien. Er trug eine mit grauem Persianer gefütterte Weste um die Schultern.
    »Bittä hereinzukommen. Seien Sie meinä Gäste.«
    »Entschuldigen Sie, aber wir haben es eilig«, lehnte Sergej höflich ab. »Der Junge hat sich offenbar nur den Fuß verstaucht, das gibt sich bald wieder. Wir müssen leider weiter.«
    »Einä Minute noch, gleich kommt meinä Schwester härrunter. Da ist sie schon«, beharrte der Zigeuner.
    Noch nie hatte Katja eine so ungeheuer dicke Frau gesehen. Sie passte nur mit Mühe durch die Pforte. Gekleidet war sie ganz in Schwarz. Ihr braunes

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