Der kalte Kuss des Todes
über diesen Bezirk zur Verfügung zu stellen – hatte es dort Vermisste oder nicht identifizierte Leichen gegeben? Anfangs kamen Kolossow die Ausführungen Jegorows völlig uninteressant und deplatziert vor, aber dann . . .
Jegorow berichtete, dass im April – ein genaueres Datum ließ sich nicht feststellen – im Bezirk Rasdolsk ein gewisser Fjodor Grigoijewitsch Soljony spurlos verschwunden war. Er hatte in einer Kommunalwohnung im Stadtzentrum von Rasdolsk gelebt und war bei der Miliz als notorischer Radaubruder bekannt. Bereits Anfang April war er nicht mehr in seine Gemeinschaftswohnung zurückgekehrt und blieb verschwunden, doch die Nachbarn aus der Kommunalka hatten erst eine Woche später die Miliz benachrichtigt. Kolossow schrieb sich den Familiennamen ins Notizbuch, doch Jegorow sah ihm an, dass er es nur pro forma tat.
»In Rasdolsk tut sich übrigens noch so einiges.«
Wie sich herausstellte, ging Jegorow regelmäßig die Computerdatei durch, in der sämtliche Vermissten aus dem ganzen Land verzeichnet waren.
»Sieh mal hier – ein gewisser Jakowenko, Andrej Gennadjewitsch.« Jegorow legte Kolossow ein Blatt Papier auf den Schreibtisch. Es war der Computerausdruck eines Fotos: ein forscher, junger blonder Mann in Matrosenhemd und Tarnanzug, mit Schnurrbart und einer deutlich sichtbaren Narbe über der rechten Augenbraue. »Ein Oberleutnant. Mitglied der Spezialeinheit › Sirene ‹ . Vermisst seit dem dreißigsten April dieses Jahres. Nach dem Schichtwechsel hat er um acht Uhr dreißig seine Dienststelle verlassen, ist aber nicht zu Hause angekommen.«
»Wo wohnt er denn?«
»In Moskau. Mit Vater, Mutter, jüngerer Schwester. . . Erst waren sie nicht allzu besorgt. Du kannst dir ja vorstellen, wie die Arbeit bei dieser Truppe aussieht. Irgendein Zwischenfall, und ab in den Hubschrauber. Mal verfrachten sie dich nach Grosny, mal nach Kamtschatka. Die Spezialtruppe › Sirene ‹ ist eine Eliteeinheit, die eigens für den Kampf gegen den bewaffneten Terrorismus geschaffen wurde. Doch als Andrej am nächsten Tag immer noch nicht zurückkam, riefen seine Eltern bei seinem Vorgesetzten an.«
Kolossow betrachtete das Foto und blickte dann Jegorow fragend an.
»Die geschiedene Frau dieses Andrej lebt in Rasdolsk. Euer Mord hat natürlich nichts damit zu tun, obwohl . . .«Jegorow schwieg einen Augenblick. »Wenn man bedenkt – gleich zwei Vermisste innerhalb eines Monats in diesem kleinen Provinzkaff. . . Mit einem Wort, wenn du in Rasdolsk bist, behalte immer im Auge: Vielleicht ist das so ein Ort, an dem Menschen verschwinden?«
Kolossow kamen diese Spekulationen eher abwegig vor: Sladkich, Grant, das waren typische Auftragsmorde. Diese Vermissten dagegen . . . Was sollte es da für eine Verbindung geben? Außerdem war ihr Tod ja noch gar nicht mit Sicherheit festgestellt – Leichen waren bis jetzt keine gefunden worden. Doch laut Dienstanweisung war er verpflichtet, jedem Hinweis nachzugehen, der zur Lösung des Falles beitragen konnte. Deshalb hatte er sich mit Spizyn in Verbindung gesetzt, und der hatte versprochen, neue Erkundigungen zu den Fällen von Soljony und Jakowenko einziehen zu lassen.
Auf dem Revier von Rasdolsk, wo sie gegen fünf Uhr eintrafen, schloss Kolossow sich mit dem Revierchef in dessen Büro ein – offensichtlich hatten Spizyn und er Geheimnisse vor Katja. Sie wartete geduldig in der Wachstube. Nach etwa fünf Minuten tauchte ein blutjunger Leutnant auf. Sofort hefteten sich ihm zwei Frauen an die Fersen, die ihm schon im Korridor aufgelauert hatten. Katja, die nichts Besseres zu tun hatte, lauschte ihrem Gespräch. Die Frauen beschwerten sich lautstark. Der einen war ihre Ziege gestohlen worden, der anderen mehrere Hühner. Sie forderten vom Diensthabenden, dieser »dreisten Räuberei müsse ein Ende gemacht und dem frechen Dieb das Handwerk gelegt werden«.
»Das ist hier in Mebelny nicht der erste Vorfall dieser Art!«, keifte die eine. »Den Basykins ihre Ziege ist auch verschwunden, und bei den Sidorows waren es die Karnickel!«
»Wer sollte denn eure Ziege stehlen? Die ist vermutlich ausgebüxt«, sagte der Wachhabende stirnrunzelnd.
»Das konnte sie ja gar nicht, sie war angepflockt. Eine gute Ziege, fünf Liter Milch hat sie gegeben! Wenn du unsere Anzeige nicht aufnimmst, gehen wir zum Staatsanwalt!«
»Was seid ihr für Leute! Gebt schon her.« Der Wachhabende stopfte die Papiere in seine Aktenmappe. »Euer Viehzeug hat mir gerade noch gefehlt. Wir
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