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Der kalte Kuss des Todes

Der kalte Kuss des Todes

Titel: Der kalte Kuss des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanowa
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Gesicht, über das sich ein Netz feiner Falten zog, hatte noch die Spuren einstiger Schönheit bewahrt: strahlende schwarze Augen unter schweren Lidern, volle, geschickt nachgezogene Lippen, dichte Brauen, rabenschwarzes Haar, das im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden war, dicke braune Arme voller Goldreifen. Sie mochte fünfundfünfzig sein, nicht älter, und ihr Auftreten war das einer Königin.
    »Danke, meine Lieben.« Die Zigeunerin neigte den Kopf. »Mein Enkel ist alles, was ich auf dieser Welt habe. Böse Menschen gibt es überall. Wie soll man ihn vor solchen Menschen schützen? Schwer ist das, sehr schwer. Die arme alte Leila allein ist dazu nicht im Stande. Aber es gibt ja auch gute Menschen, die helfen.«
    Hinter ihrem breiten Rücken tauchte eine junge braunhäutige Frau auf, ebenfalls ganz in Schwarz. Um ihren Hals hing ein riesiges Medaillon an einem langen Goldkettchen. In der Hand hielt sie ein silbernes Tablett. Darauf standen zwei Gläser, eins aus Kristall, das andere aus rotem böhmischem Glas.
    »Auf Ihr Wohl!« Die Dicke reichte Sergej mit einer Verneigung das Kristallglas, während sie Katja das böhmische Glas hinhielt. Ohne mit der Wimper zu zucken, stürzte Sergej den Inhalt hinunter und seufzte zufrieden. Katja musste neidisch daran denken, dass er aus Afrika an die Gastfreundschaft der Eingeborenen gewöhnt war. Vorsichtig nahm sie ein Schlückchen: Sieh einer an, das war ja ein vorzüglicher Martini Rosso!
    »Noch einmal danke, ihr Lieben.« Die Stimme der Zigeunerin war dunkel und melodisch wie ein Violoncello. Sie nahm Katja behutsam bei der Hand. »Wie kann ich Ihnen das vergelten, meine Liebe?«
    »Nicht doch, das ist nicht nötig. Wir freuen uns, Sie kennen gelernt zu haben«, murmelte Katja, die plötzlich das Gefühl hatte, dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben.
    »Kommen Sie, wann immer Sie wollen. Unsere Tür ist stets offen, unser Tisch gedeckt. Gleich, welche Sorge Sie drückt, Krankheit, Liebeskummer, weite Reisen, ferne Freunde, unbekannte Wege . . . Leila hilft Ihnen nach besten Kräften. Zu jeder Zeit, zu jeder Stunde.« Die Zigeunerin lächelte Katja an. »Wir beide, meine Liebe, werden uns bestimmt Wiedersehen.«
    »Weißt du, wer das war?«, fragte Katja, nachdem sie das Zigeunerdorf verlassen hatten. »Das war Madame Leila – ich hätte gleich darauf kommen müssen, aber es ist mir erst jetzt eingefallen. Die berühmte Wahrsagerin. Neulich ist sie noch im Fernsehen aufgetreten. Sie ist schon lange in diesem Metier, nur hat sie früher in Kurkino gelebt und ist erst vor kurzem hierher gezogen. Ein tolles Haus, das sie sich da hingestellt hat – offenbar von den Honoraren für ihre Zauberkünste und Heilkräfte. Ich habe schon damals auf der Uni von Madame Leila gehört. Alle Mädels, die heiraten wollten, sind vorher nach Kurkino gefahren, um sich von ihr weissagen zu lassen. Und dieser Hosenmatz, den Basarows Schläger mit Hunden gehetzt haben, ist ausgerechnet ihr Enkel. . .«
    »Wie bist du darauf gekommen, dass die Kerle aus Basarows Lager waren?«, fragte Sergej mit gerunzelter Stirn.
    Katja erzählte ihm von dem Abzeichen und fügte hinzu: »Manchmal habe ich solche unerwarteten Eingebungen. Aber du musst zugeben, Sergej, das ist finsterstes Mittelalter – einen Menschen mit Hunden zu jagen! Eine Hetzjagd auf einen Zigeunerjungen! Was ist dieser Stepan Basarow eigentlich für ein Mensch? Findest du nicht, dass er ziemlich seltsame Typen in seinem Camp hat?«
    »Gleich sind wir da, dann werden wir ja sehen.« Sergej war Pragmatiker. »Aber ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor. Allerdings. . . beim Begräbnis hat sein Vater Wadim und mir gegenüber eine Anspielung gemacht, die ich damals nicht recht ernst genommen habe.«
    »Eine Anspielung worauf?«
    »Es ging um irgendwelche Komplikationen nach einer Krankheit.«
    Katja seufzte. »Es ist erst halb elf, und wir stecken schon bis über beide Ohren in Abenteuern. Mein Gott, hatte ich Angst vorhin auf der Straße. Ich dachte, du hättest den Jungen überfahren«, sagte sie. »Übrigens, was war in deinem Kristallglas?«
    »Wodka.«
    »Seltsam, wie Madame Leila sich von mir verabschiedet hat: › Wir beide, meine Liebe, werden uns bestimmt Wiedersehens Was wollte sie damit sagen?«
    »Wahrscheinlich, dass es meist Vertreterinnen des schönen Geschlechts sind, die zu Wahrsagerinnen pilgern«, sagte Sergej lächelnd. »Uns Männern braucht man nichts zu prophezeien. Wir haben auch so längst alles

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