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Der kalte Kuss des Todes

Der kalte Kuss des Todes

Titel: Der kalte Kuss des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanowa
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Mann. Lange, zerzauste schwarze Haare fielen ihm auf die Schultern. Zusammengekauert, die Arme um die spitzen Knie gelegt, schaute er ins Feuer und leckte sich immer wieder über die aufgesprungenen, trockenen Lippen. Neben ihm saß ein ungefähr zwölfjähriges Mädchen. Auf ihrem Schoß ruhte eine lange Gerte.
    Plötzlich sprang mit Geheul eine Horde kleiner Jungen aus dem Gebüsch. Sie tanzten um den jungen Burschen herum und schrien dabei irgendetwas mit schrillen, kehligen Stimmen. Das Mädchen erhob sich und versetzte einem von ihnen mit der Gerte einen schmerzhaften Hieb auf die Schulter, einem anderen auf die Beine.
    »Sie sollen ihn nicht hänseln«, erklärte der Bucklige und fuhr die Kinder zornig an. Nachdem diese zum Fluss geflüchtet waren, näherte er sich dem jungen Mann. »Wenn er Lust hat, spricht er, und er versteht alles. Nur manchmal weint er. Hat man dir zu essen gegeben, Raka?«
    Der Junge namens Raka reagierte nicht. Das Mädchen nickte.
    Katja hatte den Eindruck, dass der viel gerühmte Werwolf nichts anderes war als ein gewöhnlicher Schwachsinniger: abwesender Blick, stumpfer Gesichtsausdruck, schlecht koordinierte Bewegungen.
    »Man erzählt von dir, du hättest ein Fell im Innern«, sagte sie freundlich. »Ist das wahr?«
    Georgi schnaubte spöttisch, der Junge aber kam gleichsam zur Besinnung, löste sich aus seiner Erstarrung und nickte langsam.
    »Bist du denn kein Mensch? Bist du ein Tier?«
    »Ich war es. Jetzt weiß ich es nicht.« Raka reckte sich und kratzte sich mit allen fünf Fingern seiner Hand am Kopf. Seine Stimme klang rau. Er dehnte die Vokale, sprach aber ein korrektes und fast akzentfreies Russisch.
    »Und was hast du getan? Bist du nachts umhergewandert?«, fragte Katja.
    Der Junge schüttelte den Kopf und schob mit der flachen Hand seine Zotteln beiseite. Mit Schaudern sah Katja, dass seine Wangen, sein Hals und sein Kinn über und über mit Narben bedeckt waren – schlecht verheilte Narben von Pocken, Furunkeln und Schrammen. Seine alte Sporthose war bis zu den Knien hochgekrempelt; auch auf den Waden waren halb verheilte Narben zu sehen. Plötzlich begann er sich hin und her zu wiegen, schneller und schneller.
    »Geht weg«, presste er hervor, als drücke ein Krampf ihm die Kehle zusammen. »Ich darf das nicht. . . Ich muss vergessen. Geh und frag die anderen nach dem Fell!«
    »Welche anderen?« Katja sah ihm ins Gesicht. »Die anderen Werwölfe, oder was meinst du? Gibt es denn viele von euch?«
    »Du brauchst sie nicht zu suchen. Wir selber. . . wir selber finden dich.« Der Junge bebte vor unterdrücktem Gelächter. Katja wich erschrocken vor dem flammenden, wahnsinnigen Blick zurück, mit dem er ihr ins Gesicht starrte. »Ich bin nicht der letzte Wukodlak. Es gibt noch einen. . . ich weiß es, ich fühle es. Im Wald ist sein Ort, im Dickicht . . . nicht hier, aber ganz in der Nähe. Ich wittere ihn, ich wittere . . .«
    »Lass uns gehen. Er hat einen unguten Blick. Nachher geschieht noch etwas Schlimmes . . .« Der Bucklige zog Katja am Ärmel. »He, Raka, gib Ruhe! Sonst kriegst du kein Wasser!«
    Die Drohung wirkte erstaunlich schnell. Der Verrückte schluchzte kläglich auf, schlug sich an die Brust und stammelte etwas in seiner eigenen Sprache. Das Mädchen stürzte Hals über Kopf zu einem anderen Lagerfeuer in der Nähe und kehrte mit einer Thermosflasche zurück. Der Junge trank mit gierigen Schlucken. Offenbar quälte ihn ein starker Durst oder heftiges Fieber.
    »Er müsste ins Krankenhaus«, wisperte Katja. »Er ist wirklich nicht nor. . .«
    Sie sprach nicht weiter. Der Blick des Wahnsinnigen, der auf das dunkle Gestrüpp des Strauchwerks gerichtet war, erschreckte sie: wild, voller Angst und Unruhe. Im selben Moment wurden das trunkene Gelächter, der Lärm und die Musik, die aus der Siedlung herüberschallten, vom gellenden, schrillen Schrei einer Frau übertönt. Grauenerregendes Geheul zerriss die Sommernacht, steigerte sich immer mehr, bis einem fast das Trommelfell platzte. Mit blutigem Gesicht rannte eine Zigeunerin vorbei. An ihren Rock klammerte sich ein zweijähriges Mädchen. Dann hörte man die quietschenden Reifen eines aus voller Fahrt bremsenden Wagens. Das Licht der Scheinwerfer, die aus der Finsternis auftauchten, blendete Katja.
    »Sie selbst werden dich finden!«, schrie der Wahnsinnige wild, kroch wie ein Tier auf allen vieren ins Gebüsch zurück und zeigte mit dem Finger auf die gleißend hellen Scheinwerfer. »Da! Ich hab’s

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