Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kalte Kuss des Todes

Der kalte Kuss des Todes

Titel: Der kalte Kuss des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanowa
Vom Netzwerk:
Mittelasien über genau diese Umschlagstellen. Bei Moldawien dachte sie sofort an Sprengstoffe, selbst gebastelte Bomben und bei Tula an die nicht ungefährliche Produktion der dort ansässigen Waffenfabriken. Katja wusste, dass ihre Kollegen sich ausschließlich aus solchen Gründen für die Zigeuner interessierten: Waffenhandel, Opium, Kokain. . . Dazu hätte sie diesem jungen Mann mit Brille ein paar Fragen stellen sollen! Aber an diesem Tag war ihr nicht nach solchen Themen zumute. Schließlich fahre ich als Gast zu diesen Menschen, an einem ihrer Festtage, dachte sie seufzend. Und ich werde sogar einen Werwolf zu sehen bekommen! Auf Katjas diesbezügliche Frage winkte Georgi jedoch nur ab: »Ach, dieser Bekloppte.«
    »Ein Geis-tes-kran-ker«, sagt der Junge bemüht und sprach jede Silbe einzeln aus. »Ich hab ihm mal was hinterhergerufen, da hat er mir fast ein Auge ausgeschlagen und geschrien, er würde mir das Herz rausreißen. Dann hat Oma ihn besprochen, und er ist weggegangen. Jetzt ist er ruhig, bloß die Spucke läuft ihm aus dem Mund.«
    Katjas mystisch-romantische Stimmung bekam einen erheblichen Dämpfer. Spucke – das war nicht wirklich romantisch.
    In der Zigeunersiedlung brodelte das Leben. So viele Zigeuner auf einmal hatte Katja noch nie gesehen. Besonders beeindruckt war sie von den Männern. Vom bartlosen Jüngling bis zum grauhaarigen Greis war jedes Alter vertreten. Gekleidet waren sie in bunte türkische Hemden, manche stolzierten sogar in Kreationen herum, die mit Spitzen besetzt waren und in den gewagtesten Farben prangten, von Rosarot bis Grellorange. Alle Haustüren standen sperrangelweit auf. Die Straße war mit Autos zugeparkt. Zwischen den Erwachsenen tobten kreischend, pfeifend und lachend Scharen von Kindern. Die kleinsten Knirpse fuhren in Mini-Autos. Katja wunderte sich inzwischen nicht mehr darüber, dass die Kinder so teures Spielzeug hatten. Die Zigeuner waren keine armen Menschen, auch wenn sie sich manchmal in Lumpen kleideten und um Almosen baten. Nach den Bettlern fragte sie Georgi nach einigem Zögern aber doch.
    »Ach, das sind die Gekauften, die das machen«, sagte er gleichgültig.
    »Die Gekauften?«
    »Wenn eine Familie sehr groß ist, kann sie schon mal ein Kind an die Genossenschaft zur Arbeit verkaufen. Die Genossenschaft kauft sie, damit sie betteln gehen. Das sind dann die, die in den Zügen herumlaufen und klauen.«
    »Aber das ist ja Sklavenhandel, Georgi!«, rief Katja.
    Georgi hob die Schultern. »Sonst verhungern sie. Manche Mutter hat ein Dutzend und mehr Kinder. Wo soll sie mit denen hin?« Er führte Katja ins Haus.
    Drinnen wimmelte es von Menschen. Unter den meist dunklen Zigeunern erblickte Katja auch ein paar Jungen und Mädchen slawischen Typs, blond und hellhäutig. Georgi erklärte, dass diese die Kinder von russischen, ukrainischen und verschiedenen anderen Vätern waren, aber Zigeunermütter hatten. »Reingebummelte«, nannte er sie. »Es sind auch unsere Zigeuner, aber eben weiße«, erläuterte er.
    Es roch nach gebratenem Fleisch, nach Minze, Zwiebeln, Pfeffer und anderen scharfen Gewürzen. Der riesige Tisch, der im Hof gedeckt war, bog sich unter der Last der vielen Steingutschüsseln voller Fleisch, Geflügel und Würste. Zum Festtag waren mehrere Paare einander versprochen worden, wie Georgi erklärte. Der Bräutigam legte den Eltern seiner Braut ein dickes Bündel Geld auf den Tisch – das Brautgeld, vergleichbar dem orientalischen »Kalym«.
    Während des Festessens gelang es Katja nur einmal, mit Leila zu sprechen. Schwitzend, mit rotem Gesicht, fächelte sie sich mit den Enden ihres schönen Spitzenschals Luft zu, kippte ein Gläschen nach dem anderen, bewirtete die Gäste und erteilte Anweisungen in der Küche.
    »Ich bin ganz erledigt, meine Liebe«, sagte sie zu Katja. »Trinkst du ein Glas Wodka mit mir? Heute ist das keine Sünde.« Sie schenkte Katja ein Schnapsglas ein. »Auf dass alle Krankheiten uns ein für alle Mal verlassen!«
    Es wurde schon dunkel, als Georgi sie zum Fluss führte. Die Siedlung lag direkt an dem Hang, der sich zum Flussufer hinabsenkte. Hier, in den Büschen am Ufer, hatten Zigeuner ihr Lager aufgeschlagen, die man aus verschiedenen Gründen nicht in die Häuser gebeten hatte. Mehrere Lagerfeuer brannten. Hier erblickte Katja endlich auch die traditionellen gestreiften Federbetten, die durchdringend nach Kinderpipi rochen.
    Unter einer Birke hockte vor einem halb erloschenen Feuer ein magerer junger

Weitere Kostenlose Bücher