Der kalte Kuss des Todes
wiederholte Katja, legte auf und schaltete den Anrufbeantworter ein. Jetzt konnte Sergej sich nach Herzenslust austoben.
Im Grunde ihrer Seele wusste Katja sehr genau, dass sie unvorsichtig und dumm handelte. Ein Rendezvous mit einem Werwolf! Sie hätte Sergej zumindest sagen sollen, wo er sie finden konnte. Aber sie hatte keine Lust mehr, sich seine Ausführungen über Supermann-Märchen und schwachsinnige Mystik anzuhören. Leise, im Singsang, wiederholte sie immer wieder die Worte, die sie am Vortag von Leila gehört hatte: Georgstag . . . Zigeunerglück . . . Ich fahre zum Feiertag des Zigeunerglücks. Was das wohl sein mag? Katja stellte sich vor, wie diese Reise beginnen würde. Die Uhr schlägt Mitternacht, jemand klingelt an ihrer Tür, und dann . . .
Aber es klingelte erheblich früher – um fünf Uhr nachmittags. Vor der Tür standen der bucklige Georgi und sein Sohn.
»Guten Abend«, grüßte Georgi. »Wir haben dich schnell gefunden. Fahren wir?« Den kleinen Jungen hielt er fest an der Hand.
»Hallo, Tante, ’ne schicke Hütte hast du, hier kann man’s aushalten.« Der Knirps beäugte die Diele. »Krieg ich was zu trinken?«
»Möchtest du Saft?«, bot Katja ihm gastfreundlich an.
»Nicht nötig.« Georgi schüttelte seinen Sohn wie einen Sack Kartoffeln. Der quietschte und plapperte etwas Unverständliches. »Sprich gefälligst Russisch!«
Beim Anblick des Wagens, mit dem Vater und Sohn gekommen waren, blieb Katja die Spucke weg: ein weißer, schäbiger Mercedes aus den Zeiten der Kubakrise. Lang wie ein Schweinetrog, schwerfällig, voller Blechflicken und Rostflecken. Der Zigeuner trat mit dem Fuß gegen den Reifen, verwies seinen Sohn mit einem Kopfnicken auf den Beifahrersitz und ließ Katja hinten Platz nehmen. Im Innern des Wagens roch es betäubend nach Benzin und einem süßlichen Toilettenwasser. Katja bemerkte, dass der Bucklige sich herausgeputzt hatte: Die schwarzen Haare waren sorgfältig gescheitelt, und er trug ein giftgrünes Jackett, eine schwarze, knittrige Hose und eine grelle, tropisch-bunte Krawatte von Givenchy. Der Kleine hatte, genau wie damals auf der Landstraße, eine Adidas-Sporthose an, nur war sie diesmal nicht so verdreckt.
Der Zigeuner erwies sich als lebhafter und redseliger Gesprächspartner, lenkte den Wagen sicher und drosselte an den Posten der Verkehrspolizei jedes Mal abrupt die Geschwindigkeit.
Katja betrachtete ihn interessiert. Eigentlich sind sie uns so fremd wie ein Volk vom Mond, überlegte sie. Da leben diese Menschen Seite an Seite mit uns, haben ihre eigenen Gepflogenheiten, Traditionen, Rituale und Feiertage, und wir wissen nichts von ihnen, außer dass sie von Bahnhof zu Bahnhof ziehen, Drogen verkaufen und in der Metro betteln, dachte sie bekümmert, während sie Georgi aufmerksam lauschte.
Allem Anschein nach gehörte Leilas Familie zur Zigeunerelite. Georgi berichtete, dass zwei von Leilas Schwestern Ensemblemitglieder des berühmten Zigeunertheaters »Romen« waren. Er selbst hatte die achte Klasse beendet und eigentlich Sänger werden wollen.
»Und warum bist du es nicht geworden?«, fragte Katja.
»Meine Stimme war plötzlich weg«, erwiderte er und rückte seine Brille gerade. »Und dann bin ich ja. . . na, du siehst ja selbst, was ich bin.«
Er lächelte traurig und schlug im selben Moment seinem Sohn auf den Arm – der Kleine hatte heimlich Zigaretten aus dem Handschuhfach stibitzen wollen.
»Und was machst du jetzt?«, erkundigte Katja sich vorsichtig.
»Verschiedenes. Mal hier, mal da«, erwiderte er ausweichend. »Und du?«
Katja stellte sich ebenfalls ziemlich vage als Journalistin vor. Sie erfuhr, dass »Zigeunerglück« so etwas Ähnliches wie die russische Woche nach Ostern war, die »Krasnaja Gorka«, ein Feiertag, an dem die Zigeuner ihre Verwandten besuchten, Hochzeiten feierten, manchmal auch Eheabkommen schlossen. Nicht nur die Sippen aus dem gesamten Moskauer Gebiet, auch die aus Wladimir, Rjasan, Tula, Moldawien und der Ukraine trafen sich hier in der Zigeunersiedlung. Leila hatte eine sehr große Sippe. Ihr Bruder – »Onkel Simeon«, wie der Bucklige ihn nannte – war eine Art Zigeunerbaron.
Als Ergebnis ihrer Reise zu den Zigeunern schwebte Katja bereits eine erstklassige Reportage vor. Nur eins störte sie: ihr innerer Spürhund, ihr »zweites Ich«. Als Georgi zum Beispiel die Verwandten seiner Mutter aus Rjasan und Wladimir erwähnte, warnte die innere Stimme Katja sofort: Opium! Mohn kommt aus
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