Der Kalte Kuss Des Todes
gab’s im Moment nichts mehr für mich zu tun, jedenfalls fiel mir nichts ein. Ich starrte auf das HOPE-Poster. Grace war im HOPE. Sie war eine echte
Freundin, und das war es, was ich im Moment brauchte. Ihr konnte ich vertrauen.
Ich klappte mein Handy auf und machte ein Foto von meinem glamourösen Bimbo-Ich. Dann textete ich Grace, dass ich gleich da sein würde. Ich machte kehrt, rannte die Rolltreppe zurück nach unten und stieg in die nächste U-Bahn.
Abermals schaute ich mich sorgfältig um. Dann lehnte ich mich an die Wand und behielt jeden neu zusteigenden Passagier im Auge. In der Tottenham Court Road stieg eine graue Baseballkappe zu, die meine Aufmerksamkeit erregte. Langsam arbeitete sie sich in meine Richtung vor. Auf der Kappe prangte das rote Kreuz der Souler, was bedeutete, dass ich mir um die pudelhaarige Brünette keine Sorgen machen musste – zumindest nicht darüber, dass ich von ihr gekidnappt werden könnte. Schillerlocke gehörte zu den Soulern, und die U-Bahn war einer ihrer liebsten Jagdgründe. Ich meine, wer weiß es nicht zu schätzen, wenn er seine Zuhörer gefangenhalten kann.
Ein Chor gemurmelter »Nein-Danke« begleitete die Missionarin, deren Lächeln jedoch keinen Moment aus dem Gleichgewicht geriet. In militärisch aufrechter Haltung bahnte sie sich ihren Weg zwischen ihren unwilligen Schäfchen hindurch. Ich blickte zu Boden, in der Hoffnung, damit ihrer Aufmerksamkeit zu entgehen – und schaute prompt in die Wraparound-Sonnenbrille eines Kobolds. Das Herz sprang mir in den Hals. Kacke.
Ein Sammler.
Die skischanzenähnliche Nase des kleinen Kobolds zuckte wie die einer neugierigen Maus. Ich schaute mich nach einem Fluchtweg um, aber es war zu spät. Der Kobold hatte meine Magie bereits gewittert; mein Glamour konnte sie nicht wirklich verbergen.
Er nickte grüßend, wobei seine grauen Gretchenzöpfe die Schultern seines dunkelblauen Arbeitsoveralls streiften, und strich mit einem knotigen Finger über seinen Nasenrücken. Mein Magen krampfte sich nervös zusammen. Hielten die Londoner U-Bahn-Arbeiter etwa auch schon nach mir Ausschau? Würde er mich verraten, wenn ich seinen Gruß erwiderte?
Aber ich musste ihn erwidern; er erwies mir als Sidhe damit seine Hochachtung, das durfte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Mit angehaltenem Atem strich auch ich über meinen Nasenrücken, auch wenn ich es so aussehen ließ, als würde ich mich verstohlen kratzen.
Er stampfte mit dem Fuß, und die Sohlen seiner Turnschuhe blinkten rot auf. Ich war auf alles gefasst. Gleich würde er wie eine Heulboje seine Kollegen verständigen.
Aber nichts geschah.
Er bückte sich lediglich und hob einen zerknüllten Papierbecher auf, den er sorgsam in seine mit rosa Pailletten besetzte Sammlertasche steckte.
Ich stieß erleichtert den Atem aus.
Er war also doch nur ein einfacher U-Bahn-Kobold, der seine Arbeit erledigte.
»Gehören Sie zu uns, Miss?« Schillerlocke wedelte mit einem Souler-Pamphlet vor meiner Nase herum.
»Äh, was?«
Sie musterte mich mit einem neugierigen Lächeln.
»Samuel scheint Sie zu kennen; er hat Sie wie eine von uns begrüßt.« Sie winkte Samuel zu, der stolz auf die Souler-Plakette auf seiner Brust deutete, die neben seiner London-Underground-Plakette prangte.
»Sie können zwar nicht gut sehen«, fuhr sie fort, »aber sie haben ein sehr gutes Personengedächtnis. Deshalb habe ich mich gefragt, ob Sie vielleicht eine Jüngerin Jesu sind?«
»Äh, nein.« Ich musterte sie misstrauisch. »Ich hab ihn bloß angesehen und gedacht, wie gut, dass sie die U-Bahn so gewissenhaft sauber halten.«
»O ja, die Kobolde sind wahrhaft würdige Gottesgeschöpfe; sie sehen keine Schande in der Ausübung minderer Arbeiten, wie auch unser Herr Jesus seinen Jüngern die Füße wusch!« Ein manisches Leuchten trat in ihre Augen. Ups, da hatte ich mit meiner Bemerkung offenbar ihren Missionseifer losgetreten.
»Samuel ist ein strahlendes Vorbild für uns alle«, fuhr sie mit erhobener Stimme fort – sie geriet jetzt sichtlich in Fahrt -, »mit seiner Hilfe und unter seiner Anleitung können wir uns von unseren Sünden reinwaschen und ins Himmelreich aufsteigen, wo ER in all seiner Glorie über uns wacht!«
Ich seufzte resigniert. Wieso hatte ich bloß geantwortet? Aber ich hätte auch nichts sagen können, und das Ergebnis wäre dasselbe gewesen. Souler sind durchaus in der Lage, sich auch ohne Input in Ekstase zu reden.
»Aber Kobolde sind doch gar keine
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