Der Kalte Kuss Des Todes
Gottesgeschöpfe«, sagte ich, um sie zu ärgern, »sie sind eine völlig andere Rasse.«
»Wir alle sind Gottesgeschöpfe«, widersprach sie salbungsvoll, »wir alle! Menschen, Kobolde, Trolle, Fae und Sonstige. Gott verwehrt keinem von uns einen Platz an seiner Seite.«
Ich starrte sie verwirrt an. Seit wann hatten sie ihren Tenor geändert? Bis vor kurzem hatten sie lediglich Menschen, Trolle und Kobolde zu Gottes Geschöpfen gezählt; der Rest konnte, soweit es sie anging, zur Hölle fahren.
Sie lächelte Samuel mit geschlossenem Mund zu. Immerhin wusste sie, dass man einem Kobold seine Zähne nur auf eigene Gefahr zeigt. Samuel kratzte gerade hingebungsvoll einen eingetretenen Kaugummi vom Boden und bemerkte sie nicht.
Ungebremst fuhr sie fort: »Samuel besitzt als Kobold zwar nicht dieselben Rechte wie Menschen, aber das heißt noch lange nicht, dass wir ihm unsere Hilfe verweigern sollten.« Sie hatte den Kopf schiefgelegt und ließ ihre Schillerlocken wippen.
Jetzt wurde es mir allmählich unheimlich!
»Na toll!«, sagte ich mit gekünstelter Begeisterung und schaute gleichzeitig auf den U-Bahn-Plan, der über mir an der Decke klebte. »Tut mir leid, Sie unterbrechen zu müssen, aber ich muss jetzt aussteigen …« Ich begann, mich verstohlen zur Tür zu verdrücken.
»Das macht doch nichts!« Sie packte meinen Arm und drückte mir strahlend ein Pamphlet in die Hand. »Zögern Sie nicht, uns anzurufen!« Ihr Grinsen hatte plötzlich einen wissenden Ausdruck, bei dem sich meine Nackenhärchen sträubten. Bevor sie sich von mir abwandte, sagte sie noch: »Denken Sie daran: Rufen Sie uns an, wenn Sie in Not sind!«
Sollte das eine Geheimbotschaft sein, oder sagte sie das zu jedem? Wenn ja, dann war sie noch verrückter als die meisten Souler, die die U-Bahnen heimsuchten. Ich warf stirnrunzelnd einen Blick auf das Flugblatt; es war nichts Besonderes, die übliche »Komm-und-lass-dich-von-uns-retten«-Botschaft. Ich gab es dem wartenden Samuel, dessen Augen entzückt aufblitzten. Er nahm das Blatt behutsam mit Daumen und Zeigefinger und stapfte zu der Soulerin zurück, der er das Papier wieder in die Hand drückte.
Recycling at its best.
Ich behielt sie bis zur Haltestelle verstohlen im Auge. Die Tür ging zischend auf, und ich wollte schon aussteigen, als mich ein Aufblitzen herumfahren ließ. Sie hatte ihr Handy auf mich gerichtet und drückte erneut ab, während ich noch blinzelte wie eine Eule. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Das Letzte, was ich sah, war ihr triumphierendes Grinsen.
Kacke. Sie wusste, wer ich war. Wahrscheinlich hatte Samuel mich doch verraten. Die Frage war, an wen würde sie das Foto versenden? An die Bullen? An ihren Oberboss? Oder an jemand anderen? Und was sollte dieses Gelaber von wegen »Helfer in der Not«?
Aber es war nun mal geschehen. Ich konnte nichts mehr daran ändern. Außer vielleicht, meinen Glamour so bald wie möglich wieder loszuwerden. Wenn jeder wusste, wie ich jetzt aussah, nützte er mir nichts mehr.
Ich hetzte durch die Straßen zur HOPE-Klinik, konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass ich verfolgt wurde. Ich schaute mich mehrmals um, suchte Cosettes Gesicht, jetzt, wo ich den Dryaden entkommen war, aber sie tauchte nirgends auf. Auch sonst erkannte ich niemanden, der hinter mir her sein könnte. In meiner Angst und Nervosität dauerte es nicht lange, bis ich die Klinik erreicht hatte.
Die Tür ging zischend auf, und ich rannte hinein. Hari, der Rezeptionist, der Nachtschicht hatte, saß in seinem Glaskasten und bedachte mich mit seinem patentierten »Wenn-du-Schwierigkeiten-machst-fliegst-du-raus-Blick«.
Meine Angst ließ sofort nach: Ein gelb-braun-gestreifter, fast zweieinhalb Meter großer Troll braucht nicht mehr zu tun, als die Stirn zu runzeln, um sein Gegenüber einzuschüchtern, aber ich kannte Hari. Er war ein Riesensoftie.
»Ja, Miss?«, brummte er mit seiner tiefen Bassstimme.
Hari war nicht in den kleinen Plan eingeweiht, den Grace und ich ausgeheckt hatten. Daher lehnte ich mich keuchend an den Tresen.
»Ich muss unbedingt Dr. Hartwell sprechen«, schnaufte ich theatralisch, »mir ist der Stoff ausgegangen.« Wir hatten vereinbart, dass ich einen auf Turkey machen sollte, daher mein Keuchen, meine – nicht nur – gespielte Nervosität.
Das Problem war allerdings, dass all das Gerenne und Gejagtwerden meinen Sidhe-Metabolismus bereits so beschleunigt hatte, dass ich tatsächlich kurz vor einem Blutfieberanfall
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