Der kalte Schlaf
dass tatsächlich irgendwas durch den Briefschlitz geschüttet wurde? Hätte das Feuer nicht auch von innen gelegt werden können? Und es ist sogar denkbar, dass Hewerdine sich vor die Haustür gestellt und das Zeug durch den Briefschlitz gegossen hat, wieder hineingegangen ist, die Tür geschlossen und es angezündet hat.«
»Nun, Sergeant Kombothekra? Wollen Sie auf Gibbs’ Frage antworten?«
»Mit Sicherheit wissen wir momentan nur, dass es Brandstiftung war. Ich müsste genauer nachfragen, ob das Feuer auch im Haus selbst gelegt worden sein könnte.«
»Tun Sie das, ja?«, sagte Proust. »Sie werden auch sämtliche Berichte und Protokolle noch einmal durchgehen müssen, die Ursula Shearer Ihnen geschickt hat. Suchen Sie nach Lücken. Sie dürfen erwarten, auf viele zu stoßen. Jemand, der nicht zur Feuerwehr gehört, läuft in einer Feuerwehruniform herum – woher stammt die?«
»Ich treffe mich gleich mit DS Shearer, Sir. Ich werde sie bitten, mich auf den neuesten Stand zu bringen.«
»Gut. Sie beide sind beruflich Gleichgesinnte. Ich bin sicher, Sie werden sich gut verstehen. Waterhouse, ich möchte, dass Sie …«
»Vielleicht war es ja ein Feuerwehrmann«, unterbrach Simon ihn. »Wir wissen, dass es niemand von der Feuerwehr von Culver Valley war, mehr nicht. Was ist mit den benachbarten Ländern?«
»Sellers, nehmen Sie Kontakt zur Feuerwehr von Tokio, Tahiti und Echo Island auf, einer Insel, die, wie man hört, im Privatbesitz der Disneyfamilie ist. Waterhouse, ich möchte, dass Sie sich ausschließlich auf Amber Hewerdine konzentrieren. Wenn Gibbs Recht hat, könnten Sie sie vielleicht …«
»Hat er nicht«, sagte Simon.
»… zu einem Geständnis überreden. Das würde uns allen das Leben sehr erleichtern.«
»Das erreichen wir auch, indem wir Amber Hewerdine als Verdächtige ausschließen.«
»Nennen Sie mir einen guten Grund dafür«, blaffte der Schneemann.
»Sie ist ganz offensichtlich unschuldig«, sagte Simon.
Schön, Zeit für ein Geständnis. Amber hat Recht, ich habe gelogen. Es kam in Little Orchard zu keinem Streit zwischen den beiden Großmüttern darüber, ob das Baby entgegen dem Willen seiner Mutter die Flasche bekommen dürfe. Es war von Anfang bis Ende ausgedacht. Ich weiß nicht, warum ich mir ausgerechnet dieses Thema für den imaginären Streit zwischen Pam und Hilary ausgesucht habe, ebenso gut hätte ich sagen können, sie zankten sich über Tony Blairs Entscheidung, britische Soldaten in den Irak zu schicken. Ich habe keine Ahnung, ob Jo ihre Kinder gestillt oder mit der Flasche gefüttert hat, und ich kenne weder Sabinas, Pams oder Hilarys Ansichten zu diesem Thema. Der Vorfall war eine reine Erfindung von mir, Sie können ihn also aus Ihrer Erinnerung streichen und vollkommen vergessen.
Aber können Sie das wirklich? Ich hoffe, Sie durchleben beide gerade ein gewisses Maß an Verwirrung, während Sie sich bemühen, diesen fiktiven Vorfall nicht mehr dazu heranzuziehen, um zu verstehen, was auf Little Orchard geschehen ist. Etwas in Ihnen sagt: »Moment mal, ich weiß nicht, ob ich das so einfach vergessen kann. Schließlich wurde mir erzählt, dass es so passiert ist.« Selbst Amber, die dort war und mit Sicherheit weiß, dass es nie geschehen ist – die protestierte, als ich behauptete, es wäre so gewesen –, kämpft gegen das Gefühl an, es könne ja nicht völlig aus der Luft gegriffen sein, dieses Phantom, dieses Nicht-Ereignis, müsse irgendeine Bedeutung haben, und sei es nur in meinem Kopf.
Stellen Sie sich folgende Szene vor, die so oder ähnlich in jedem Gerichtsfilm vorkommt. Der Ankläger erklärt den Geschworenen: »Zeugen haben den Angeklagten rufen hören: ›Ich bin der gefährlichste Mörder der Stadt und stolz darauf. Untersuchen Sie mein blutdurchtränktes T-Shirt!‹« Die Verteidigerin springt auf und sagt: »Einspruch, Euer Ehren, das ist Hörensagen.«
»Stattgegeben«, sagt der Richter. »Die Geschworenen werden die letzte Aussage nicht beachten.« Ignorieren die Geschworenen sie? Natürlich nicht. Das Gegenteil geschieht: Das Hörensagen setzt sich stärker in den Köpfen der Geschworenen fest als der Rest der Aussagen, weil es offiziell verboten wurde. Indem er die Aussage nicht zuließ, hat der Richter an einen Archetypus gerührt, der uns allen tief in den Knochen sitzt. Was wird verboten? Gefährliche Wahrheiten werden verboten. Eine verbotene Information muss daher eine zutreffende Information sein.
Mein erfundener Streit
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