Der kalte Schlaf
ist es so, als wäre es nie geschehen, bis eine Hypnotherapie oder irgendwas anderes unser Unbewusstes dazu bringt, aufzubrechen und es preiszugeben – eine plumpe, wenig exakte Metapher, aber Sie verstehen, was ich meine. Es ist denkbar, dass Amber das Blatt Papier mit den Worten »Lieb – Grausam – Liebgrausam« irgendwo in Little Orchard gesehen und die Erinnerung daran verdrängt hat.
Leugnung ist etwas anderes. Es ist vergleichbar damit, dass man einen Fleck auf dem Ärmel hat, der einen stört. Man zieht den Pullover darüber, damit man den Fleck nicht mehr sieht, und vergisst dann fast, aber nicht ganz, dass es ihn gibt. Dann gibt es noch die Möglichkeit, dass man sich an etwas nicht erinnert, an das man sich normalerweise erinnern würde, weil man mit der Aufmerksamkeit woanders war, man abgelenkt wurde. Vielleicht hat Amber die Worte »Lieb – Grausam – Liebgrausam« irgendwo in Little Orchard gesehen, erinnert sich aber nicht mehr daran, weil es der am wenigsten bemerkenswerte Teil einer bestimmten Szene war. Wenn das der Fall sein sollte, gibt es allen Grund zur Hoffnung. Wenn sie sich plötzlich daran erinnern kann, dass Jo, Hilary und Ritchie am Heiligabend irgendwelche Geheimnisse hatten und etwas sie offenbar stark beschäftigte, könnten ihr noch jede Menge anderer entscheidender Details wieder einfallen.
Amber erinnerte sich bis eben nicht an die angespannte, konspirative Atmosphäre zwischen Jo, ihrer Mutter und ihrem Bruder, weil sie abgelenkt war. Für sie war das hervorstechendste Merkmal der Episode Neils Reaktion darauf, dass Jo nicht mit ihm nach oben gehen wollte. Er war enttäuscht, verwirrt, irritiert und ließ es sich anmerken. Amber fiel das auf, weil es so ungewöhnlich ist. Normalerweise zeigt sich niemand offen unzufrieden mit Jos Verhalten. Jo darf nicht in Frage gestellt, herausgefordert oder kritisiert werden. Alle haben Angst vor ihr, und das zu Recht.
Das Geheimnis hinter dem Geheimnis. Irgendwas stimmt mit Jo nicht. Niemand in der Familie weiß das, nicht einmal Jo selbst.
7
D ONNERSTAG , 2. D EZEMBER 2010
Charlie Zailer schaut auf ihre Uhr, als ich komme. Sie hat eine ungeöffnete Dose 7UP vor sich stehen. Da wir uns in einem versifften Internet-Café voller Taxifahrer befinden, dem Web & Grub – alles ist klebrig, die grauen, handgeschriebenen Preisschilder sind verschmiert –, frage ich mich, ob sie sich wegen des luftdichten Behälters für dieses Getränk entschieden hat, als gesundheitsvorbeugende Maßnahme. »Es wird nicht lange dauern«, versichere ich ihr.
Sie wirkt verlegen. »Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie wollen.« Sie bedeutet mir, mich zu setzen. Ich will mich nicht hinsetzen. Ich platze vor nervöser Energie. »Simon hat mir erzählt, was gestern Nacht passiert ist«, sagt sie. »Alles okay mit Ihnen?«
»Haben Sie irgendetwas gesehen?« Ich denke, hier ist sie mir eine Antwort schuldig.
»Nein. Wenn ich etwas gesehen hätte, hätte ich es Simon gesagt. Ich habe nichts gesehen.«
Sie sieht nicht aus wie jemand, der mein Haus angezündet hat. Ehrlich gesagt, habe ich das auch nie angenommen, es kommt also nicht als große Überraschung.
»Niemand außer mir war auf der Straße, als ich den Umschlag einwarf. Ist er im Feuer verbrannt?«
»Nein. Ich war wach. Als ich das Feuer hörte, war ich oben und habe die Akte gelesen.«
»Sie haben das Feuer gehört? «
Ich nicke. Es belastet mich, dass ich das Geräusch nicht beschreiben kann, oder nur unzutreffend.
»Wie lange danach?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht eine Dreiviertelstunde. Ich war die Akte zweimal flüchtig durchgegangen, bevor ich nachsehen ging, aber ich weiß nicht, wie lange das Feuer schon brannte, als es mir auffiel. Der Täter könnte zehn Minuten nach Ihnen gekommen sein.«
»Oder vor mir. Wenn Sie ein Haus anzünden wollten, würden Sie es dann sofort machen? Oder würden Sie sich Zeit lassen, sich erst mal orientieren?«
»Ich würde es hinter mich bringen und so schnell wie möglich wieder von da verschwinden.« Ich kann sehen, dass sie anderer Meinung ist. »Sie hätten da herumgestanden?«
»Ich würde mich erst mit der Umgebung vertraut machen wollen. Es sei denn, ich würde sie bereits in-und auswendig kennen.«
Meine Beine zittern. Ich stütze mich am Tisch ab.
»Warum setzen Sie sich nicht?«, schlägt sie vor.
Ja, warum setze ich mich nicht? Warum bilde ich mir ein, ich könnte hier kurz vorbeischauen, um mir eine einfache Antwort mitzunehmen, damit
Weitere Kostenlose Bücher