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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Hannah
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es gedankenlos und diskriminierend, dass Amber Kirsty nie frage, wie es ihr gehe, obwohl Kirsty eine solche Fragen unmöglich beantworten kann. Eine absurde Unterstellung, und nach Ambers Tonfall zu urteilen, weiß sie selbst sehr gut, wie absurd ihr Vorwurf ist. Auch Zorn schwang mit. Sie hat mir bewusst ein verwirrendes Signal zukommen lassen.
    Ein Witz? Eine Parodie auf Jos unvernünftige Anfeindung? Oder glaubt sie ernsthaft, es sei ein Beweis für meine Vorurteile gegenüber Behinderten, dass ich Kirsty nicht zu den Beteiligten an der »Verschwörung am Heiligabend« gerechnet habe, wie Amber das Treffen nennt?
    Nach allem, was ich über sie gehört habe, würde ich vermuten, dass Kirsty geistig auf dem Niveau einer Zweijährigen ist, oder sogar noch weniger weit entwickelt, da die meisten Zweijährigen bereits ein wenig sprechen können. Sie können ihre eigenen Gefühle ausdrücken und bekommen mit, in welcher emotionalen Verfassung sich andere befinden. Kirsty kann weder sprechen noch auf das reagieren, was man ihr sagt.
    Ich weiß nicht. Ich bin keine Expertin für geistige Behinderung, aber ich würde doch annehmen, man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass Kirsty nichts von dem privaten Gespräch verstanden hat, das am Heiligabend stattfand, nachdem alle anderen zu Bett gegangen waren. Daher kann man auch kaum behaupten, dass sie an dem Gespräch teilgenommen hat, obwohl sie körperlich anwesend gewesen sein mag. Das macht sie nicht zu einem Möbelstück, sondern es ist eine realistische Einschätzung ihrer Beteiligung an dem Gespräch.
    Trotzdem hat Amber in gewissem Sinne Recht. Da Kirsty geistig behindert ist und nicht im Besitz irgendwelcher Informationen sein kann, die uns helfen könnten, habe ich sie ignoriert. Ich habe mich nicht so auf sie konzentriert wie auf die übrigen Charaktere des Little-Orchard-Dramas. Aber nun, nachdem man mich sozusagen direkt mit der Nase darauf gestoßen hat, kommen mir alle möglichen interessanten Ideen. Sie haben Kirsty sehr häufig erwähnt, Amber. Sie haben ständig auf sie Bezug genommen. Das war mir vorher nicht aufgefallen. Vorurteilsbeladen wie ich bin, nahm ich an, eine geistig Behinderte könne nicht wichtig sein.
    In Little Orchard sagte William zu Ihnen, er habe Angst vor Kirsty, und bat Sie, es Jo gegenüber nicht zu erwähnen. Um ihn aufzuheitern, schlugen Sie ein Spiel vor, die Suche nach dem verschwundenen Schlüssel. Die abgeschlossene Arbeitszimmertür ärgerte Sie. Ich würde mal vermuten, dass das verschlossene Zimmer zwischen Ihnen und Jo Thema war, lange bevor Sie den Schlüssel fanden und es zu dem großen Streit darüber kam, ob man ihn benutzen sollte oder nicht. Vielleicht haben Sie bereits kurz nach ihrer Ankunft darüber gesprochen, als sie sich im Haus umsahen. Möglich, dass Sie scherzhaft bemerkten, Sie würden gern mal einen Blick ins Arbeitszimmer werfen, und Jo Ihnen Vorwürfe deswegen machte. Ja? Schön, und dann am zweiten Weihnachtstag nach dem Verschwinden und Wiederauftauchen von Jo, Neil und den Kindern, nachdem Jo erneut betont hatte, wie wichtig es sei, die Privatsphäre zu respektieren – diesmal ihre eigene –, hatten Sie genug. Scheiß auf die Privatsphäre. Sie wollten Antworten. Ich kann sehr gut verstehen, warum Sie so entschlossen waren, den Schlüssel zu finden, und wie wichtig es Ihnen gewesen sein muss. Aus diesem Grund frage ich mich: Warum haben Sie William mitmachen lassen? Fünfjährige Jungen sind weder für Unauffälligkeit noch Diskretion bekannt. Mit William wuchs die Wahrscheinlichkeit, dass Jo herausfinden würde, was Sie vorhatten, und versuchen würde, Sie davon abzuhalten.
    Aber so selbstsüchtig sind Sie nicht. Sie wussten, das Suchspiel würde William riesigen Spaß machen, und so gingen Sie das Risiko ein. Nicht weil Sie ihn aufmuntern wollten, wie Sie behauptet haben, jedenfalls nicht nur deswegen. Sie wollten ihn auch dafür belohnen, dass er zugegeben hatte, Kirsty unheimlich zu finden.
    Bei unserer letzten Sitzung lag Ihnen sehr viel daran, mir von Dinahs Reaktion auf Kirsty zu erzählen. Dinah meinte, dass man unmöglich sagen kann, ob sie ein netter oder ein schrecklicher Mensch ist. Sie erklärten Dinah, dass diese Überlegungen keinen Sinn machen würden, wenn jemand so schwer behindert sei wie Kirsty. Aber Dinah überzeugte das nicht. Sie entgegnete, da Kirsty nicht sprechen könne, könne sie der netteste oder der gemeinste Mensch auf der Welt sein – das ließe sich nicht feststellen.

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