Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Hannah
Vom Netzwerk:
weil sie natürlich weiß, dass Kirsty gar nichts weiß.
    Oder vielleicht schaut sie Kirsty an und denkt: Du musst Dinge gesehen und gehört haben, die du verstehen und mir erzählen könntest, wenn du normal wärst . In dem Fall würde Amber sich noch schuldiger fühlen. Man stelle sich nur vor, der armen Kirsty etwas übelzunehmen. Was für ein schrecklicher Mensch muss man sein, wenn man so etwas tut? Neidisch auf Kirsty zu sein, auf jemanden, dem es so viel schlechter geht als einem selbst. Was ist nur mit mir los?, wird Amber sich denken.
    Dabei ist es vollkommen verständlich. Sie erinnern sich, dass ich vorhin sagte, Ambers verzweifelter Wunsch zu erfahren, warum Jo, Neil und die Kinder damals verschwanden, müsse von irgendwas am Leben gehalten worden sein, von irgendeiner Kraft? Eine der möglichen Erklärungen, die ich vorschlug, war, sie könne überzeugt sein, jemand anderes kenne die Wahrheit, jemand, der weniger intelligent ist als sie.
    Dieser Mensch ist Kirsty. Der Gedanke, dass Kirsty irgendwo in ihrem beschädigten Gehirn die geheime Information gespeichert hat, in Form von Daten, die sie durch Augen und Ohren aufgenommen hat, aber nie begreifen wird, macht Amber rasend. Denn sie, Amber, die fähig ist, zuzuhören und zu begreifen, steht draußen in der Kälte, eine Außenseiterin, die von nichts weiß.
    Ich erwähnte vorhin auch, dass Amber vielleicht glaubt, Jo schulde ihr ein Geheimnis. Was bedeuten würde, dass Amber ihr irgendwann vor der Fahrt nach Little Orchard ein Geheimnis anvertraut hat – ein wichtiges Geheimnis, würde ich mal vermuten. Narzissten geben sich oft charmant und verführerisch, um andere einzuwickeln. Damit wollen sie sicherstellen, dass sie jemanden zur Verfügung haben, wenn sie jemanden brauchen, auf den sie losgehen können. Es ist leicht möglich, dass Amber sich täuschen ließ und glaubte, sie könne Jo vertrauen, bevor sie sie besser kennenlernte.
    Aber seitdem hat sie gelitten. Sie lässt sich Jos regelmäßige Gemeinheiten bieten, weil Jo etwas gegen sie in der Hand hat. Dieser Gedanke ist es, den sie nicht ertragen kann, und deshalb steckt sie ihre ganze Energie in den Versuch, Rätsel zu lösen, die sich nicht lösen lassen, und es werden immer mehr. Ist es Ihnen aufgefallen? Mittlerweile gibt es bereits zwei. Kirsty kann unmöglich etwas wissen, und doch kann Amber den Verdacht nicht loswerden, dass sie etwas weiß. Amber hat die Worte »Lieb – Grausam – Liebgrausam« weder in dem verschlossenen Zimmer noch irgendwo anders in Little Orchard gesehen, und doch ist sie sich sicher, dass sie sie irgendwo in Little Orchard gesehen haben muss.
    Wie ich schon sagte, ich habe nichts gegen unlösbare Rätsel, im Gegenteil, sie sind hochgradig bedeutsam. Sie sind das, was Sie davon abhält, Ihren persönlichen verschlossenen Raum zu betreten, Amber, und gleichzeitig weisen sie Ihnen den Weg hinein. Die Unlösbarkeit der Rätsel und das Ausmaß, in dem Sie diese Unmöglichkeit frustriert, zeigt, dass Ihr Unterbewusstsein Ihrem Bewusstsein signalisiert, dass es das nicht länger ertragen kann. Es muss hinaus ins Freie.

9
    D ONNERSTAG , 2. D EZEMBER 2010
    »Du hast versprochen, es uns zu sagen, sobald wir im Auto sitzen«, meckert Dinah. »Jetzt sitzen wir im Auto, also musst du es uns sagen.«
    »Das will ich ja, Dinah. Ich wollte es nur nicht tun, solange wir von Lehrern und … ausgelassenen kleinen Mädchen in Schildkröten- und Hasenkostümen umringt waren.«
    »Sie haben eine von Äsops Fabeln geprobt«, erklärt Nonie. Im Auto riecht es nach Chlor. Donnerstags haben die beiden Schwimmen. Ihre Haare sind noch nass.
    »Donnerstags holst du uns sonst nie ab. Sonst fahren wir immer mit dem Bus.«
    Plötzlich erkenne ich, was so ungewöhnlich daran ist, wie ich mich fühle. Ich habe die Energie, die ich für dieses Gespräch brauche. Als Simon Hilarys Haus wieder verlassen hatte, legte ich mich aufs Sofa und meldete mich bei der Welt ab. Als ich zweieinhalb Stunden später erwachte, um drei Uhr nachmittags, klarer im Kopf als seit anderthalb Jahren, wusste ich, dass ich nach Little Orchard fahren musste.
    Unbedingt. Ich muss da wieder hin.
    »Wir fahren nach Surrey, in ein Haus«, erkläre ich Dinah und Nonie. »Es ist ein Abenteuer.« Schnee fällt auf das Auto. Es hat gerade angefangen zu schneien, aber es sind dünne Flocken, die mich nicht aufhalten werden. Ich weiß nicht, ob irgendwas mich in dieser Stimmung, in der ich mich gerade befinde, aufhalten könnte.

Weitere Kostenlose Bücher