Der kalte Schlaf
Ich würde riesige Felsbrocken aus dem Weg räumen, wenn das notwendig wäre, um nach Little Orchard zu gelangen. Ich habe mir nicht gestattet, darüber nachzudenken, warum das so ist. Es ist mir auch egal.
»Aber die Stunde wäre sowieso in fünf Minuten zu Ende gewesen«, protestiert Dinah. »Wenn du uns früher aus der Schule holen wolltest, warum bist du nicht früher gekommen, damit wir eine ganze Stunde verpassen?«
»Ich bin so früh gekommen, wie ich konnte«, versichere ich. Und ich habe Kekse mitgebracht .
»Was für ein Haus in Surrey und warum?«, will Nonie wissen. Eine verständliche Frage.
»Es heißt Little Orchard. Es ist ein Ferienhaus, wie das, in dem wir im Sommer waren, in Dorset. Luke und ich waren mal für ein Wochenende da, es ist schon Jahre her.«
»Und du hast es gemietet?«
»Gibt es ein Trampolin?«, erkundigt Dinah sich wachsam, als müsse sie damit rechnen, dass ich dieses entscheidende Kriterium übersehen habe. »Kommt Luke später nach?«
»Nein, wir werden nicht dableiben. Ich muss nur etwas mit der Eigentümerin besprechen.« Die höchstwahrscheinlich gar nicht dort sein wird. Und was willst du machen, wenn sie nicht da ist? Einbrechen?
»Auf der Rückfahrt halten wir irgendwo an und essen was Schönes.« Ich versuche, es nach Spaß klingen zu lassen. Mir ist bewusst, dass ich die Mädchen für vier Stunden Langeweile im Auto entschädigen werden muss.
»Morgen muss ich unbedingt zur Schule«, sagt Dinah. »Wir haben die erste richtige Probe von Hektor und seine zehn Schwestern .«
»Du wirst sie nicht verpassen«, verspreche ich.
Ein paar Sekunden später bemerke ich, dass hinter mir geflüstert wird – es klingt nach Streit, nicht nach Verschwörung. Dinah und Nonie müssen dringend lernen, wie man lautlos mit den Lippen Worte formt. Ich lausche dem Gezischel und stelle mir die Mienen und die hektische Gestik dazu vor, die ich nicht sehen kann. Wie immer weiß ich die Mühe zu schätzen, die die Mädchen sich meinetwegen machen. Normalerweise versuchen sie, mich zu beschützen und nicht sich selbst, wenn sie sich so aufführen. Schließlich platzt Dinah heraus: »Die Besetzungsliste für Hektor hat sich geändert. Zwei Mädchen, die Hektors Schwestern sein sollten, sind nicht mehr dabei. Aber dafür habe ich ihnen sogar noch bessere Rollen im nächsten Stück versprochen, das ich schreiben werde. Obwohl ich kein weiteres Stück mehr schreiben werde, es ist dermaßen stressig. Aber das wissen sie ja nicht. Jedenfalls, jetzt ist alles geregelt und jeder ist einverstanden, also ist alles bestens.«
Ich erkenne Schönfärberei, wenn ich sie höre.
»Du kannst ihnen doch keine Hauptrolle in einem Stück versprechen, das du nie schreiben wirst.« Nonie seufzt. »Ich werde es schreiben müssen, wenn du es nicht tust. Es wird nicht gut werden. Ich schreibe einfach irgendwas, damit sie mitspielen können.«
»Schreib das schlechteste Stück, das es gibt«, rät Dinah. »Sie haben nichts Besseres verdient, nachdem sie …«
»Dinah!« Nonie klingt verängstigt.
»Nachdem sie was?«, frage ich.
»Nichts«, erklärt Dinah entschieden.
Soll ich darauf bestehen, dass sie es mir sagt? Wie schlimm kann es schon sein? Oder vielleicht lautet die Frage, die ich mir stellen sollte: Wie überzeugend könnte ich im Augenblick so tun, als wäre ich an den Meinungsverschiedenheiten von Achtjährigen interessiert? Ich werde später nachhaken. Oder auch nicht. Vielleicht ist es in Ordnung und keineswegs nachlässig von mir, wenn ich davon ausgehe, dass Dinah nicht dazu übergegangen ist, weniger zufriedenstellende Ensemblemitglieder im Umkleideraum festzubinden und sie mit Springseilen zu verprügeln.
»Was musst du in diesem Haus abklären?«, fragt Nonie geduldig. Sie würde selbst dann nicht ungeduldig werden, wenn sie tausendmal fragen müsste.
»Warum rufst du die Eigentümerin nicht an oder mailst ihr?«, regt Dinah an. »Niemand fährt den ganzen Weg nach Surrey, nur um irgendwas zu klären. Du sagst uns nicht die Wahrheit. Wieder einmal.«
»Dinah!«, murmelt Nonie.
»Ist schon okay, Nones. Sie hat Recht. Ihr habt es verdient, die Wahrheit zu erfahren.«
»Endlich!«, ruft Dinah. »Sie wird aufhören, uns wie dumme kleine Kinder zu behandeln.«
Ich weiß nicht genau, wo ich anfangen soll. »Es gibt im Augenblick sehr viel, das ich nicht verstehe«, sage ich. »Jemand hat unser Haus angezündet. Ich weiß nicht, wer oder warum …«
»Und wir wissen nicht, wer unser altes
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