Der kalte Schlaf
Dinah fand außerdem, es sei ihr gutes Recht, misstrauisch gegenüber Kirsty zu sein.
Sie betonten zweimal, wenn nicht sogar dreimal, dass Sie viel deutlicher hätten reagieren sollen, dass Sie Dinah hätten erklären sollen, dass es nicht in Ordnung sei, so über eine hilflose, harmlose Frau zu denken. Warum haben Sie nichts von alldem gesagt? Glauben Sie nicht, dass es wichtig ist, Kindern Mitgefühl zu lehren und ihre Irrtümer zu berichtigen?
Ich werde also in der dritten Person weitersprechen, da ich Sie nicht persönlich angreifen will. Ich stelle lediglich Fragen.
Amber hat erklärt, warum sie das für Dinah nicht korrigiert hat. Nach ihren jahrelangen Erfahrungen mit Jo schätzt sie es nicht, wenn jemand anderen Leuten sagt, was sie denken und wie sie empfinden sollen. Zudem liegen Dinah und Nonie ihr mehr am Herzen als irgendwelche Prinzipien. Sie wollte nicht, dass Dinah sich schuldig fühlte, weil sie zu einer Schlussfolgerung gelangt war, die einer Achtjährigen logisch erscheinen mag.
Doch das überzeugt mich noch nicht. Es ist durchaus möglich, einem Kind zu erklären, dass es sich im Irrtum befindet, ohne Schuldgefühle in ihm auszulösen. Man sagt es, ohne wütend oder vorwurfsvoll zu klingen: »Ich kann verstehen, warum du das gedacht hast. Man kann sich da leicht irren.«
Wenn man die beiden Vorfälle zusammen betrachtet – Amber schlug William die Schlüsselsuche vor, unmittelbar nachdem er seine verbotene Angst vor Kirsty eingestanden hatte, und sie unterließ es, Dinahs Fehlschluss über die Implikationen von Kirstys Behinderung anzugehen –, scheint es mir ziemlich klar zu sein, dass Amber sich mit den Kindern identifizierte, als sie diese Beobachtungen machten. Ich würde mal vermuten, dass Amber selbst verbotene Gedanken über Kirsty hegt, Gedanken, die ihr Schuldgefühle machen.
Es ist unwahrscheinlich, dass sie wie William Angst vor ihr hat. Sie wird Kirsty auch nicht im Verdacht haben, eigentlich böse zu sein, wie Dinah es tut. Also was ist es dann?
Amber hat einmal erwähnt, dass Jo ihren Bruder Ritchie als Baby der Familie bezeichnet, aber sie hat nicht erwähnt, wer die Älteste ist, Jo oder Kirsty. Ich würde tausend Pfund darauf wetten – auch wenn ich sie nicht habe –, dass Kirsty das mittlere Kind ist, zwei, drei, vielleicht vier Jahre nach Jo geboren. Eine narzisstische Persönlichkeitsstörung wird durch ein schweres emotionales Trauma hervorgerufen, normalerweise um das Alter von drei Jahren herum: der Schock, wenn Geborgenheit oder Liebe einem plötzlich weggenommen werden, wie ein Teppich, der einem unter den Füßen weggezogen wird. Nach Kirstys Geburt, mal angenommen, sie wurde so geboren, wie sie ist, muss es einen ungeheuren Aufruhr der Gefühle in der Familie gegeben haben. Dieses Trauma ist höchstwahrscheinlich die Ursache von Jos Narzissmus.
Kirsty kann nicht sprechen. Vermutlich versteht sie auch nicht viel. Sie ist so schwer behindert, dass die Gefahr besteht, dass die Leute sie behandeln, als wäre sie ein Möbelstück. Jo führte am Heiligabend ein privates Gespräch mit ihrer Ursprungsfamilie, so privat, dass ihr Mann Neil nicht daran teilnahm. Jo findet es normal, und ganz normal, sich bei einem Familientreffen mit der Mutter, dem Bruder und der Schwester gegen den eigenen Mann zu verschwören, den sie allein zu Bett geschickt hat. Sie findet es ganz normal, Neil mitten in der Nacht aufzuwecken und von ihm zu verlangen, dass er mit ihr flieht, ohne ihm mitzuteilen, wovor sie fliehen. Die meisten Frauen vertrauen sich ihren Partnern an, Jo nicht. Wie alle Narzissten gehört sie zu den Kontroll-Freaks. Sie weiß, was sie will, und kann nicht zulassen, dass Neils Ansichten sie davon abhalten, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.
Kirsty hingegen … Wer könnte eine bessere Vertraute abgeben, von Jos Gesichtspunkt aus gesehen? Sie kann nicht widersprechen, sie kann nichts ausplaudern. Bei Kirsty wird Jo keine Notwendigkeit sehen, zu lügen oder irgendetwas zu verbergen.
Ich werde mich mal weit aus dem Fenster lehnen: Amber hat Dinahs Irrtum über Kirsty nicht korrigiert, weil er ihren eigenen Gedanken gefährlich nahe kommt. Jedes Mal, wenn Amber Kirsty in die Augen sieht, fragt sie sich: Was weißt du? Woher weiß ich, dass du nicht die Informationen hast, die ich gern hätte? Gut, du kannst nicht sprechen, aber wer weiß, was hinter diesen Augen vorgeht? Ich weiß ja nicht mal, was dir eigentlich fehlt . Und dann wird Amber Gewissensbisse haben,
Weitere Kostenlose Bücher