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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Hannah
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Expertin, aber ich glaube, sie könnte sich täuschen.
    Als ich wieder ruhig genug bin, um mich konzentrieren zu können, stelle ich fest, dass das Notizbuch Briefe enthält. Falls man etwas ohne Anrede und Unterschrift einen Brief nennen kann. Was ich nicht glaube. Ich vermute, dass diese Tiraden nicht geschrieben wurden, um abgeschickt zu werden, sondern damit die Schreiberin sich besser fühlt. Jeder der Briefe ist mehrere Seiten lang und voller zorniger Anklagen. Ich fange an, den ersten zu lesen, höre aber nach ein paar Zeilen auf, als eine Welle der Angst mich durchläuft.
    Was zum Teufel mache ich da? Ich bin nicht hier, um mich in die Bitterkeit einer Unbekannten zu vertiefen – ich muss das finden, wonach ich suche, und schleunigst wieder verschwinden. Nachdem ich einen flüchtigen Eindruck von der verbalen Wut bekommen habe, mit der die Rote-Lippenstift-Frau auf jeden einprügelt, der ihr in die Quere kommt, bin ich noch weniger versessen darauf, dabei ertappt zu werden, wie ich ihre Sachen durchwühle.
    Rasch blättere ich die Seiten durch: Tirade, Tirade, Tirade, Einkaufsliste, Tirade … Nach einer Weile höre ich auf, auf den Inhalt zu achten. Auf all diesen Seiten steht viel zu viel. Ich suche eine Seite, auf der nur vier Worte stehen, mit viel Platz darum herum, eine fast leere Seite.
    Was für ein Idiot bin ich eigentlich. Die Seiten sind nicht liniert. Warum ist mir das nicht sofort aufgefallen? Warum sitze ich immer noch hier? Kann Hypnotherapie einen bleibenden Hirnschaden hervorrufen?
    Ich blättere weiter, obwohl es eher unwahrscheinlich ist, dass das Notizbuch in der Mitte plötzlich Linien entwickelt.
    Gib auf.
    Nur noch eine Seite.
    Ich blättere um und habe gerade die Worte erblickt, als ich das Klicken einer sich öffnenden Tür höre. Oh nein, oh Gott, das kann nicht sein.
    Ich bin gefangen in einem länglichen Lichtkegel. Die Frau, in deren Auto ich eingedrungen bin, kommt auf mich zumarschiert. Ich versuche zu überlegen, ob ich noch genug Zeit habe, auszusteigen und wegzurennen, bevor sie bei mir angekommen ist, bleibe dann aber, wo ich bin. Warum bin ich bloß ein so irres Risiko eingegangen? Wie konnte ich nur so dämlich sein? Dinah und Nonie werden um halb fünf aus dem Schulbus steigen, und ich werde nicht da sein, um sie abzuholen. Wo werde ich sein? In einer Arrestzelle? Mein Magen krampft sich schmerzhaft zusammen, ein Adrenalinschub treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Habe ich eine Panikattacke?
    »Legen Sie mein Notizbuch hin und steigen Sie aus meinem Auto aus.« Ihre ruhige Effizienz erschreckt mich. Irgendetwas an der Situation stimmt nicht, und es ist nicht nur die Tatsache, dass ich ohne Erlaubnis in ihrem Auto sitze. Sie müsste verärgerter sein. Sie sollte in der Praxis sein . Warum ist sie herausgekommen? War es eine Falle? Vielleicht wusste sie, was ich vorhatte, noch bevor ich es selbst wusste. Kann es sein, dass sie ihr Auto absichtlich nicht abgeschlossen hat, um mir Gelegenheit zu geben, mich selbst zu belasten und sich die Gelegenheit, mich dabei zu ertappen?
    Ginny Saxon steht in der Tür ihrer Holzpraxis und beobachtet uns. »Alles in Ordnung?«, ruft sie. Ich kann sie nicht ansehen. Ich starre auf das aufgeschlagene Notizbuch in meiner Hand.
    Dann klappe ich es zu und reiche es seiner Eigentümerin.
    »Gehen Sie nach Hause, Amber«, sagt sie müde, als wäre ich ein unartiges Kind, das nachsitzen musste und jetzt gehen darf. »Bleiben Sie dort. Zu den Erklärungen kommen wir später, einverstanden?«
    Ich habe keine Ahnung, was sie meint, aber ich bin nur zu gern bereit, uns beiden das Leben einfacher zu machen, indem ich verschwinde – weg von ihr, weg von Ginny, weg von der Great Holling Road 77, dem Schauplatz derartig vieler grauenhaft demütigender Erfahrungen, dass ich freiwillig nie wieder hierher zurückkehren werde.
*
    Als ich wieder in meinem Auto sitze, zwinge ich meinen Geist dazu, ganz leer zu werden. Wenn ich irgendetwas denke, dann: »Fahr, fahr, fahr.« Ich kann es gerade noch rechtzeitig schaffen, wenn ich wirklich rücksichtslos fahre. Als ich mich dem Crozier-Bridge-Kreisverkehr nähere, ordne ich mich auf der Spur ganz links ein, auf der einzigen Spur, die frei ist. Im Kreisverkehr wechsle ich auf die richtige Spur, womit ich ein wütendes Hupkonzert der anderen Autofahrer auslöse. Dasselbe ziehe ich bei drei weiteren Kreisverkehren durch und erspare mir dadurch fast zehn Minuten Wartezeit.
    Du bist rücksichtslos, und zwar nicht

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