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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf
Autoren: Sophie Hannah
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nur heute. Versuch nicht, so zu tun, als wäre dir dieses Verhalten neu.
    Die Hypnotherapie scheint die Stimme in meinem Kopf verstärkt zu haben, die ständig versucht, mir Schuldgefühle einzureden. Oder auch nicht. Jedenfalls hat sich meine Paranoia eindeutig verstärkt.
    Fahr, fahr, fahr. Fahr, fahr, fahr.
    Mein Herzschlag verlangsamt sich auf ein kontrollierbares Niveau, als ich sicher sein kann, dass ich doch noch rechtzeitig beim Schulbus sein werde. Ich habe ihn noch nie verpasst, kein einziges Mal, und ich bin fest entschlossen, es auch weiterhin so zu halten. Darüber muss ich mir also keine Sorgen mehr machen. Das Problem ist nur, jetzt kommen die anderen Gedanken zurück.
    Sie hat mich angelogen.
    Die Wörter standen in ihrem Notizbuch. Genau die Worte, die ich vorhin ausgesprochen habe. »Lieb – Grausam – Liebgrausam.« Geschrieben wie eine Liste auf einer ansonsten leeren Seite. Kein liniertes Papier, das nicht, aber abgesehen von diesem Detail stimmte meine Beschreibung hundertprozentig. Warum also hat sie behauptet, ich könne es nicht gesehen haben?
    Wenn ich es Luke erzähle, wird er sagen, es sei offensichtlich, warum die Frau mit dem roten Lippenstift gelogen hat. Seit Little Orchard besteht seine Standardreaktion darin, sich alles anzuhören, was mich verwirrt, um dann das Vorhandensein jedweden rätselhaften Elements zu leugnen, damit ich nicht anfange, mich obsessiv damit zu beschäftigen. »Sieh es mal anders«, wird er sagen. »Es wäre verwunderlich, wenn sie nicht gelogen hätte. Es ist ihr egal, ob dein Erinnerungsvermögen versagt – warum sollte sie das auch kümmern? Ihr war es einfach wichtig, eine private Angelegenheit für sich zu behalten. Sie hat irgendwas Eigenartiges in ihr Notizbuch geschrieben, du hast es gesehen, sie will niemandem erklären, was es bedeuten soll. Da ist nichts Geheimnisvolles daran.«
    Ein Songtext? Ein Gedicht? Eine Beschreibung ihres emotionalen Zustands oder ihrer Persönlichkeit? Es war lieb von ihr, mir ihren Termin zu überlassen, und es war grausam, sich über Ginny lustig zu machen, weil sie ihre Hypnotherapie-Praxis in einem Gartenschuppen untergebracht hat. Und liebgrausam war es dann, mich anzulügen und zu leugnen, dass sie das geschrieben hat?
    Ich schüttle den Kopf, angewidert von der Absurdität meiner Überlegungen. Wie viele Leute schreiben schon Listen ihrer eigenen Persönlichkeitsmerkmale in ein Notizbuch, das sie mit sich herumtragen?
    Es gibt jemanden, mit dem ich die Sache wahnsinnig gern durchsprechen würde, und das ist Jo. Aber so gern ich sie auch anrufen würde, sobald ich zu Hause bin, ich werde es mir verkneifen. Ich habe heute bereits zu viele schlimme Dinge getan, da werde ich ausnahmsweise einmal ein wenig Selbstbeherrschung zeigen und der Liste nicht noch einen Punkt hinzufügen. Seit Little Orchard habe ich die Angewohnheit, ihr das unerklärliche Verhalten anderer Leute zu schildern und sie zu fragen, ob ihr ein Grund für dieses bizarre Benehmen einfalle. Ich tue das, damit sie sich unwohl fühlt: Es ist ein Versuch, ihr indirekt mitzuteilen, dass ich ihr rätselhaftes Verschwinden an jenem Weihnachtstag nicht vergessen habe – jenes rätselhafte Verschwinden, das nie erwähnt wird und nie erklärt wurde.
    Wenn Jo sich meiner Hintergedanken bewusst ist, verbirgt sie das meisterhaft. Meine ständigen Bemerkungen über die Irrationalität dieser oder jener Person scheinen sie nie aus dem Konzept zu bringen. Ich würde gern glauben, dass sie ebenso gut weiß wie ich, wie viele wichtige Dinge wir uns nicht sagen, obwohl wir die Gelegenheit dazu hätten – und dass das an ihr liegt. Aber allmählich frage ich mich, ob sie Little Orchard nicht ganz aus ihrem Gedächtnis gelöscht hat und wirklich keine Ahnung hat, wie sehr es mich immer noch beschäftigt. Wenn ich das seltsame Verhalten meiner zahlreichen Kollegen beschreibe, zeigt ihre Reaktion – »Ja, wirklich höchst sonderbar« und »Was für ein Spinner!« – deutlich, dass es Reaktionen eines Menschen sind, dem es selbst nie in den Sinn kommen würde, sich derart merkwürdig zu verhalten.
    Zur üblichen Zeit – achtundzwanzig Minuten nach vier – erreiche ich die Ecke Spilling Road und Clavering Road. Dinahs und Nonies Schulbus hält zweimal im Zentrum von Rawndesley, hier und am Bahnhof. Der Bahnhof ist die beliebtere Haltestelle, aber für mich hat diese zwei Vorteile: Kaum jemand benutzt sie, und sie ist nur fünf oder sechs Schritte von meiner Haustür
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