Der kalte Schlaf
undurchdringliche Barriere darstellen, undurchdringbar für Worte und Verständnis. Ich kann nicht sprechen. Der Tag geht bereits zur Neige. Die Felder sehen aus wie flache dunkle Tücher, die neben der leeren Straße ausgebreitet wurden. Der Anblick erinnert mich an den Zauberer, den wir zu Nonies siebtem Geburtstag engagiert hatten, und das schwarze Satintuch, das er über sein kleines Tischchen breitete.
Was ist bloß los mit mir? Wie lange schweige ich jetzt schon? Meine Gedanken bewegen sich entweder zu schnell oder unerträglich langsam.
Ihre Hände, rot angelaufen vor Kälte, schwarze Wollhandschuhe auf dem Beifahrersitz neben ihr, ein Notizbuch auf ihrem Schoß, Worte auf der aufgeschlagenen Seite …
Ich widerstehe dem Drang, in die Wärme von Ginnys Holzhöhle zurückzuflüchten und um Gnade zu bitten. Ich bin zu ihr gekommen, damit sie mir hilft – und ich brauche immer noch Hilfe. Wie konnte das alles damit enden, dass ich sie als Lügnerin bezeichnete, mich weigerte zu bezahlen und wutentbrannt aus der Praxis gestürmt bin?
Lieb – Grausam – Liebgrausam.
»Vor einer Stunde konnten Sie noch sprechen, jetzt nicht mehr«, bemerkt die Frau mit dem roten Lippenstift. »Was hat sie da drin mit Ihnen gemacht? Blinzeln Sie, wenn Sie antworten wollen – zweimal bedeutet ja, einmal nein. Hat sie Sie darauf programmiert, ein Attentat auf ihre politischen Feinde zu verüben?«
Ich kann unmöglich fragen. Ich muss. Mir bleiben vielleicht nur wenige Sekunden, bevor Ginny sie hereinruft. »Ihr Notizbuch«, sage ich. »Das Sie vorhin in der Hand hielten, als Sie im Auto saßen. Ich weiß, es klingt merkwürdig, aber … haben Sie ein Gedicht geschrieben?«
Sie lacht. »Nein. Nichts derartig Ambitioniertes. Warum?«
Wenn es kein Gedicht war, warum dann die kurzen Zeilen?
Lieb
Grausam
Liebgrausam
»Wie hieß dieser Typ noch mal, der ein ganzes Buch diktiert hat, indem er mit dem linken Augenlid blinzelte?«, fragt sie und blickt über die Schulter zur Straße, als stünde dort jemand, der die Antwort kennen könnte. Sie will nicht über das reden, worüber ich reden will. Warum sollte sie auch, es ist ihr privates Notizbuch.
»›Lieb – Grausam – Liebgrausam‹. War es das, was Sie geschrieben haben? Ich bitte Sie gar nicht darum, mir zu verraten, was es bedeutet …«
»Ich weiß nicht, was es bedeutet«, sagt sie. Sie langt in ihre Handtasche und nimmt ein Päckchen Marlboro Lights und ein silbernes Feuerzeug heraus. »Abgesehen vom Offensichtlichen, lieb bedeutet lieb, grausam bedeutet grausam.«
»Ist es möglich, dass ich diese Worte in Ihrem Notizbuch gesehen habe?« Gibt dir irgendwas das Recht, ihr diese Frage zu stellen?
Ich warte, während sie sich eine Zigarette anzündet. Sie macht zwei tiefe Züge, kostet jeden aus: eine Werbung für die schlechte Angewohnheit, von der sie kuriert zu werden hofft. Auch wenn ich vermutlich nicht einfach davon ausgehen sollte, dass sie deshalb hier ist.
Man sollte nichts einfach annehmen. Insbesondere nicht, dass man im Recht ist und der Mensch, der einem zu helfen versucht, ein Lügner ist.
Warum habe ich bloß das Gefühl, dass sie Zeit schindet? »Nein, Sie hätten diese Worte nicht in meinem Notizbuch sehen können«, erwidert sie endlich. »Vielleicht war es irgendwo anders. Da wir gerade dabei sind, aufdringliche Fragen zu stellen, wie heißen Sie?«
»Amber. Amber Hewerdine.«
»Bauby«, verkündet sie zu meiner Verblüffung. »So hieß er – der Blinzel-Autor.«
Ich werde weiterfragen – ich kann nicht anders. »Sind Sie sicher? Vielleicht ist es schon eine Weile her, dass Sie es geschrieben haben, oder …« Oder es steht in Ihrem Notizbuch, ohne dass Sie etwas davon wissen, weil ein anderer es dort hineingeschrieben hat. Das sage ich dann doch nicht, weil es verrückt ist – noch verrückter als die Vorstellung, Ginny könne in ihrer Gartenpraxis im Culver Valley angehenden Attentätern eine Gehirnwäsche verpassen. Ich habe im Moment keinerlei Vertrauen in mein Urteilsvermögen, jeder Gedanke muss erst durch einen Normalitäts- und Plausibilitätsfilter laufen. Erkundige dich nicht, ob sie ihr Notizbuch vielleicht mit jemandem teilt. Niemand teilt sein Notizbuch.
Am besten ist es vermutlich, wenn ich so ehrlich wie möglich bin. »Ich erinnere mich, diese Worte irgendwo gesehen zu haben.« So wie du dich daran erinnerst, dass Ginny sie gesagt und dich dann gebeten hat, sie zu wiederholen? »Es war angeordnet wie eine Liste.
Weitere Kostenlose Bücher