Der kalte Schlaf
landen und in der Falle sitzen. Das ist etlichen Leuten passiert, die sie kennt.« Ritchie schob sich das Haar aus den Augen. »Es ist nur allzu leicht, einfach weiterzumachen mit dem, was man mal angefangen hat, selbst wenn einem der Beruf gar nicht gefällt.«
»Ihre Mutter ist da anderer Meinung?«, fragte Sam.
»Ja.« Ritchie lächelte. »Mutti ist eben eine typische Mutter. Sie will, dass ich etwas im Leben erreiche, sodass mein Erfolg auch auf sie abfärbt – sagt jedenfalls Jo. Mutti hatte nie die Chance, viel aus ihrem Leben zu machen, weil sie sich um Kirsty kümmern muss. Ich glaube, es fällt ihr schwer, mit anzusehen, wie ich … mir einen schönen Lenz mache, wie sie es sieht. Jo ist eher wie Mutti in dieser Hinsicht. Die anderen kommen für sie an erster Stelle, sie ist immer für andere da. Mutti ärgert sich nicht so über Jo wie über mich. Im Grunde ist es wirklich blödsinnig. Wir drehen uns im Kreis, meine Mutter macht sich für Jo stark, Jo macht sich für mich stark …«
»Findet Ihre Mutter, dass Sie Jo ausnutzen, wenn Sie sich von ihr unterstützen lassen?«, fragte Sam in der Annahme, dass das verständlich sei. Er fragte sich, wie Jos Mann Neil das wohl sah. Gab es Streit deswegen?
»Ja.« Ritchie nickte. »Vor einigen Jahren bat Jo Mutti, ihr Testament zu ändern. Sie wollte, dass sie das Haus nur mir hinterlässt. Sie wollte auf ihren Anteil verzichten. Sie hätte bereits ein Haus, sagte sie. Während ich Muttis Haus ja brauche, wenn sie mal stirbt, wenn ich nicht für immer in diesem Loch hausen will.«
Sam vermied jeden Augenkontakt und konzentrierte sich darauf, in sein Notizbuch zu schreiben. War das die Information, nach der Simon suchte? Es klang ganz danach. Sam hatte es aufgegeben, sich die Frage zu stellen, wie Simon quasi riechen konnte, dass es eine Geschichte gab, die noch nicht erzählt worden war, während niemand sonst das ahnte.
»Meine Mutter sagte, ihr Testament sei ihre Sache, und sie würde es nicht ändern«, fuhr Ritchie fort. »Sie kam mit irgendwelchen Sprüchen von wegen Fairness: Eltern müssten all ihre Kinder gleich behandeln, ungeachtet der Umstände, selbst wenn eines der Kinder im Geld schwimmt und das andere pleite ist. Nicht, dass Jo im Geld schwimmen würde, aber sie hat … ein ausreichendes Einkommen.«
»Sie sind anderer Meinung?«, fragte Sam. Je mehr er über Ritchie Bakers Mutter erfuhr, desto mehr billigte er ihre Ansichten.
»Normalerweise wäre ich das nicht«, entgegnete Ritchie. »Ich war immer davon ausgegangen, dass Mutti uns allen zu gleichen Teilen alles vererben würde. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, das Haus für mich allein haben zu wollen, wenn Jo nicht die Idee gekommen wäre. Aber sie hat es vorgeschlagen, es war ihr Wunsch, und meine Mutter hat sich trotzdem geweigert. Das ist doch schlicht Sturheit, oder? Das ist Prinzipienreiterei.«
Sam war Jo Utting nie begegnet, und es fiel ihm schwer, an Ritchies Version von ihr zu glauben. »Ist Ihre Schwester wirklich so selbstlos, dass Sie Ihnen ihr Erbteil schenken würde?«
Ritchie lächelte. »Fragen Sie Jo, ob sie selbstlos ist«, sagte er. »Sie würde sich vor Lachen bepissen. Sie hat alles, was sie sich nur wünschen könnte, sagt sie. Einen netten Mann mit einer erfolgreichen Firma, ein schönes Haus, das ihnen gehört und nicht der Bank, zwei wunderbare Kinder, Sabina, die ihr hilft … Jo will nur, dass ich es genauso gut habe wie sie. Sie sagt immer: ›Verkauf dich nicht zu billig. Nimm nicht einfach irgendeinen Job an, nur um Mutti zu gefallen. Warte, bis du irgendwas findest, was dir wichtig ist.‹« Ritchie lachte in sich hinein. »Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube, es gefällt ihr, dass ich nicht arbeite. Sie mag es, dass sie mich jederzeit anrufen oder vorbeikommen kann, ich bin ja immer hier.«
Er hat seine Schwester tatsächlich gern, dachte Sam, und nicht nur aus materialistischen Gründen. »Ihre Mutter hat ihr Testament also nicht geändert?«
»Soweit ich weiß nicht. Wir haben nie wieder darüber gesprochen, aus offensichtlichen … Oh.« Er hielt inne. »Sie kennen die Gründe ja gar nicht, Sie wissen es nicht.«
Sam wartete.
»Am Tag, nachdem Jo und Mutti sich deswegen gestritten hatten – das erste und einzige Mal –, passierte etwas Sonderbares. Jo … verschwand, ohne irgendjemandem irgendwas zu sagen. Mit Neil und den Kindern. Oh, sie kam zurück, aber da war der erste Weihnachtstag schon vorüber. Niemand hat je was gesagt, aber
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