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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Hannah
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zu erkennen, womit Dinah und Nonie sich, ihren Klassenkameraden und den Lehrern das Leben schwermachen. Ebenso klar kann ich ihre Talente und ihre Stärken erkennen, ihre persönlichen und intellektuellen Fähigkeiten, die ihnen das Leben einmal erleichtern werden. Ich empfinde nicht das Verlangen, das Gute mit vorgetäuschter Bescheidenheit zu leugnen oder so zu tun, als existiere das Schlechte nicht, denn ich habe die beiden Mädchen nicht selbst produziert. Folglich habe ich es nicht nötig, mich auf gegenseitige Abkommen zur Illusionsverstärkung einzulassen, etwas, auf das viele Eltern angewiesen sind: »Es überrascht mich überhaupt nicht, dass Mr Maskell nicht erkannt hat, wie begabt Jerome ist, Susan – Rhiannons Begabung hat er auch nicht erkannt.«
    Wie immer steigen Dinah und Nonie als Erste aus dem Bus. Dinahs Anweisungen folgend, bleibe ich hinter den Müttern stehen. Ganz am Anfang erklärte sie mir, dass ich nicht zu ihr laufen und sie umarmen oder ihr einen Kuss geben dürfe, dass Sharon das auch nicht hatte tun dürfen – jede Zurschaustellung von Zuneigung an einem öffentlichen Ort ist peinlich und daher verboten. Es ist mir jedoch erlaubt, begeistert zu lächeln, und das tue ich, während die beiden Mädchen mit schnellen, ordentlichen Schritten auf mich zusteuern wie zielstrebige Geschäftsfrauen auf dem Weg zu einem wichtigen Meeting. Ich entnehme Dinahs Miene, dass sie mir etwas Wichtiges mitzuteilen hat. Das hat sie immer, jeden Tag. Nonie macht sich Sorgen darüber, wie ich darauf reagieren werde und wie Dinah auf meine Reaktion reagieren wird, wie immer. Ich spüre, wie ich innerlich mit Lockerungsübungen anfange, als sie näher kommen, denn ich weiß, was zwischen uns vorfallen wird, es wird alles rasend schnell gehen, und ich muss auf Zack sein. Luke hat den Dreh raus, er kann entspannt mit ihnen umgehen und sie dazu bringen, ruhiger zu werden, was mir nie gelingt. Meine Gespräche mit ihnen kommen mir oft vor wie verbale Tischtennispartien, alles läuft superschnell ab, und ich bemühe mich verzweifelt, sie gewinnen zu lassen, weiß aber nie so genau, wie ich das anstellen soll.
    »Werdet ihr irgendwann ein Baby bekommen, du und Luke?«, fragt Dinah und reicht mir ihren und Nonies Ranzen. Es ist meine Aufgabe, sie ins Haus zu tragen.
    »Nein. Wieso, warum fragst du?«
    »Jemand hat uns das im Bus gefragt. Weil ihr ja nicht unsere Eltern seid. Dieses Mädchen, Venetia, meinte, wenn ihr ein Baby habt, werdet ihr es mehr lieben als uns, und das hat Nonie Angst gemacht.«
    »Nein, wenn wir ein Baby bekämen, würden wir es nicht mehr lieben als euch«, versichere ich Nonie und achte darauf, nur sie anzusehen, denn ich weiß, Dinahs Stolz würde bei der leisesten Andeutung rebellieren, sie könne eine beruhigende Versicherung ebenso gut gebrauchen. »Kein bisschen mehr. Aber wir werden kein Baby haben. Wir haben darüber gesprochen und uns dagegen entschieden. Wir werden bleiben, was wir sind: eine vierköpfige Familie.«
    »Gut, denn das hätte auch wenig Sinn«, sagt Dinah.
    »Dass wir ein Baby bekommen?«
    »Ja. Es würde nur groß werden und in einem Büro arbeiten. Hat schon jemand von der Schule angerufen?«
    »Nein«, sage ich. »Sollten sie?«
    »Dinah steckt in Schwierigkeiten, und es ist nicht ihre Schuld.« Nonie zupft an der Haut ihrer Unterlippe.
    »Ich habe es dir doch gesagt.« Ihre Schwester dreht sich zu ihr um. »Mrs Truscott hat nicht angerufen, weil sie wusste, dass Amber zu mir halten würde.«
    »Weswegen würde ich zu dir halten?«
    »Ist Luke schon zu Hause?« Dinah ignoriert meine Frage, nimmt ihren Schulschal ab und reicht ihn mir zusammen mit den Handschuhen.
    »Weiß ich nicht. Ich war noch nicht drinnen, ich bin gerade erst …«
    »Ich erzähle es erst ihm, dann erzähle ich es dir.«
    »Das ist doch blöde«, wendet Nonie ein. »Er wird es ihr sagen.«
    »Ich werde es ihr sagen. Aber sie wird sich nicht solche Sorgen machen, wenn sie sieht, dass Luke es komisch findet, und das wird er.«
    Und das alles, bevor wir bei der Haustür angekommen sind. »Was ist gegen die Arbeit in einem Büro einzuwenden?«, frage ich, als ich in der Handtasche nach den Schlüsseln suche. »Ich arbeite auch in einem Büro.«
    »Es ist langweilig«, verkündet Dinah. »Nicht für dich, wenn es dir gefällt – das ist okay. Ich meine nur, wenn man bedenkt, wie viele Leute in einem Büro arbeiten – fast jeder –, dann ist es langweilig. Es wäre doch albern, ein Baby zu bekommen,

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