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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Hannah
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fühlen Sie sich jetzt gleichbehandelt? Keine Gönnerhaftigkeit, oder?
    Ja, auch ich habe meine Geheimnisse. Haben wir das nicht alle? Ich habe Dinge getan, wegen denen ich mich schuldig fühle, und es gibt Dinge, die mich mit Scham erfüllen, aber eins kann ich Ihnen versprechen, Ihnen mal die Meinung gegeigt zu haben, wird nie dazugehören. Und jetzt verlassen Sie meine Praxis, alle beide.

12
    3. 12. 2010
    »Machen Sie sich keine Vorwürfe«, sagte Simon. Er und Amber saßen mit voll aufgedrehter Heizung in seinem Wagen gegenüber von Ginny Saxons Haus, Simon wollte noch nicht losfahren. Ginny hatte ihn aus ihrer Praxis geworfen, aber er konnte sein Auto schließlich so lange auf einer öffentlichen Straße stehen lassen, wie es ihm passte. »Sie hat überreagiert. Sie haben sie gebeten, etwas zu tun, was sie nicht tun wollte. Das hätte sie ja einfach sagen können, ohne einen Wutanfall zu bekommen.«
    »Es wird nicht funktionieren.« Amber lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe.
    »Was wird nicht funktionieren?«
    »Schmeichelei. Mein Ego zu massieren. Ich hatte kein Recht, sie darum zu bitten.«
    »Sie wollten Streit anfangen«, sagte Simon. »Sie wollten, dass wir rausfliegen.«
    »Denken Sie das ruhig, wenn Sie wollen.«
    »Es stimmt nicht?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ginny hat gesagt, sie sei bereit, gegen die Regeln zu verstoßen, um mir zu imponieren. Ich wollte sehen, ob das ernst gemeint war. Ich wollte sie nicht auf die Palme bringen, ich wollte nicht, dass sie sich unbehaglich fühlt. Eigentlich will ich ihre Geheimnisse gar nicht wissen. Wir haben nichts miteinander zu tun. Ich würde es vorziehen, ihre Geheimnisse nicht zu kennen.«
    »Warum haben Sie dann darum gebeten?« Simon fühlte sich unbehaglich. Er hatte Ginny zu lange zugehört und irgendwie vorübergehend die Fähigkeit verloren, zwischen Vernehmungsfragen und Therapiefragen zu unterscheiden. Hatte er das eben gefragt, weil es dazu dienen könnte, ein oder mehrere Verbrechen aufzuklären, oder weil es ihn interessierte, wie Ambers Kopf funktionierte? Es war zu einfach, sich selbst zu sagen, dass es auf dasselbe hinauslief.
    »Ich wollte nur … ich wollte, dass sie begriff, was sie da von mir verlangte«, erklärte Amber. »Sie macht es sich ein bisschen zu einfach, wenn sie jemanden auffordert, in aller Öffentlichkeit sein Herz aufzuschneiden und vor fremden Leuten die ganze Scheiße rausquellen zu lassen. Ich wollte, dass sie das empfand, was ich empfand – Grauen ist ein zu starkes Wort, ich werde zur Abwechslung mal moderat sein und es extremen Widerwillen nennen.« Sie wandte sich Simon zu. »Ein so extremer Widerwille, dass es auch körperlich spürbar ist. Ich habe mir nicht nur vom Kopf her gesagt, dass ich es lieber für mich behalten würde. Kann sein, dass ich unsere Klient-Therapeuten-Beziehung«, sie malte Anführungszeichen in die Luft, »vermurkst habe, aber zumindest weiß Ginny jetzt, wie ich mich gefühlt habe, als sie mir befahl, zum Besten meiner Psyche alles rauszulassen.«
    Simon nickte. Wie viele Patienten schluckten die »Es-ist-zu-Ihrem-eigenen-Besten«-Sprüche ihres Therapeuten? Sicher niemand, dem ernsthaft etwas an seiner Privatsphäre lag. Er wollte nicht riskieren, Amber gegen sich aufzubringen – aus irgendeinem Grund, den er nicht einmal erahnen konnte, schien sie ihm gegenüber positiv eingestellt zu sein – aber eigentlich fand er ihre Haltung zweifelhaft. Entweder sie konnte es ertragen, über ihr Geheimnis zu sprechen, oder nicht. Wenn sie es konnte, wenn es ihr nicht absolut unmöglich war, es auszusprechen, warum zum Teufel gab sie ihm dann nicht die Informationen, die er brauchte?
    »Ich hätte die moralische Unterstützung gebrauchen können, um ehrlich zu sein«, fuhr sie fort. »Warum sollte ich die Einzige sein, die ihre Schuld auf einem Tablett vor sich herträgt? Wäre es denn so schlecht, wenn Therapeuten auch etwas von sich erzählen und damit ihren Klienten das Gefühl vermitteln, dass beide gemeinsam auf dem Weg sind, dass beide gleichermaßen zerbrechlich und verkorkst sind?«
    »Und wenn …« Simon dachte nach. »Sie wissen doch selbst, dass in der Therapieausbildung Grundregeln darüber vermittelt werden, wie man mit Klienten umgeht, die die Grenze überschreiten und zu persönlich werden.«
    »Wie ich, meinen Sie?«
    »Es wird irgendeinen vorgefertigten Text dafür geben. Und Ginny muss ihn kennen, so wie sie den Rest ihrer Sprüche kennt: ›Ihre Atmung fließt ruhig und

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