Der kalte Schlaf
Abend von Sam erfahren hatte, über Hilarys Testament und Jos Bemühungen, dafür zu sorgen, dass ihre Mutter das Haus nur Ritchie hinterließ. »Ich kann mir keinen Reim darauf machen«, schloss er. »Alles weist darauf hin, dass Jo großzügig ist, und doch will sie nicht, dass jemand erfährt, wie viel Geld sie hat. Vielleicht gibt es ihr einen Kick, wenn es so aussieht, als müsste sie Opfer bringen. Oder vielleicht hat sie Angst, dass die Familie die Hand aufhalten würde, wenn sie wüssten, wie reich sie sind – alle würden mehr haben wollen, als sie zu geben bereit ist. Wenn sie hingegen als arme Kirchenmaus gilt, wäre jeder dankbar für das, was sie zu geben bereit ist.«
Amber schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Wenn man paranoid ist und auf keinen Fall will, dass die Familie erfährt, wie viel Geld man hat, gehört man auch zu der Sorte Mensch, die überzeugt ist, nicht einen Penny ihres großen Vermögens entbehren zu können. Man verschenkt nichts, man lädt nicht mal eine Freundin an ihrem Geburtstag auf eine Pizza ein.«
Das war genau der Gedankengang, den er verfolgt hatte, bis ins letzte Detail. Simon empfand den Wunsch, etwas Distanz zwischen sich und Amber zu legen. Vielleicht würde es helfen, den Scheibenwischer zu betätigen. Simon würde sich weniger eingeengt fühlen, wenn er noch etwas anderes sehen könnte als Schnee.
Amber stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Sehen Sie mal«, sagte sie. Die Blätter des Scheibenwischers hatten die weiße Schneedecke entfernt, und man konnte Ginny erkennen, die am vorhanglosen Fenster ihrer Praxis stand und zu ihnen hinüberstarrte. »Was macht sie da?«
»Fragt sich, warum wir immer noch hier sind. Wünscht sich, wir würden endlich abhauen.«
»Kann ich nachempfinden. Beides.« Amber seufzte. »Aber wir werden nicht wegfahren, oder? Es gibt einen Grund dafür, dass wir im Auto sitzen und reden, anstatt woanders hinzufahren. Einen Grund, den Sie mir nicht verraten.«
Simon schwieg.
»Jo hat Neil allein ins Bett geschickt, damit sie mit ihrem Bruder und ihrer Mutter über das Testament reden konnte«, sagte Amber langsam. »Wenn wir alles zusammenfügen, was wir aus den verschiedenen Quellen erfahren haben, ist diese Schlussfolgerung naheliegend, oder?«
»Ja, vermutlich.«
»Der Streit über das Testament war also der Auslöser für Jos und Neils Verschwinden. So muss es sein. So war es mit Sicherheit, würde Ginny sagen. Simon, wenn ich …« Sie unterbrach sich.
»Was?« Er konnte nicht begreifen, warum er so geduldig war. Normalerweise hätte er mittlerweile schon alles Menschenmögliche getan, um an die Informationen zu kommen, die sie zurückhielt. Was hatte Amber Hewerdine nur an sich, das ihn dazu brachte, mehr an ihre Bedürfnisse zu denken als an seine eigenen? Er musste sich zusammenreißen, er durfte nicht vergessen, warum er hier war. »Wenn Sie nicht genau wissen, ob Sie mir etwas erzählen sollen oder nicht, könnten Sie sich einen Ruck geben und auf die Stimme hören, die sagt: Na los, erzähl’s ihm endlich?«
Amber schloss die Augen. Simon konnte sie atmen hören, kurz und stoßweise. »Ich glaube, Jo hat mein Haus angezündet«, sagte sie. »Ich glaube, sie hat Sharon getötet. Kat Allen kann sie nicht ermordet haben, weil sie bei einem Verkehrserziehungsseminar war und sich für mich ausgab, aber sie hat dafür gesorgt, dass Kat umgebracht wurde. Ich weiß nicht, wen sie dazu gebracht hat, es zu tun. Neil oder Ritchie vermutlich. Wahrscheinlich Neil. Ritchie hätte nur alles vermasselt.«
»Warum, warum und warum?«, fragte Simon.
»Ich kann nur eine dieser Fragen beantworten«, sagte Amber. »Die letzte Brandstiftung war eine Warnung. Jo weiß, dass ich unter Schlaflosigkeit leide. Ich bin immer fast die ganze Nacht wach oder war es zumindest. Es war ein Risiko, aber sie wird sich ziemlich sicher gewesen sein, dass schon niemand zu Schaden kommen würde. Sie will Dinah und Nonie nichts antun. Sie könnte allerdings versuchen, mich und Luke loszuwerden, wenn sie sicher sein könnte, dass die Mädchen dann bei ihr landen. Ich würde es Jo zutrauen, dass sie uns vorschlägt, ein Testament zu machen, in dem wir festlegen, dass die Mädchen zu ihr kommen, wenn uns etwas zustoßen sollte. Nach der Adoption.« Amber lachte und vergrub das Gesicht in den Händen. »Was rede ich da?«, murmelte sie zwischen den Fingern hindurch. »Bitte sagen Sie mir, dass ich Blödsinn rede.«
»Nun mal ganz langsam«, sagte Simon.
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