Der kalte Schlaf
Dinge, die niemand sonst miteinander in Verbindung bringen würde. Ihren Wutausbruch, die Tatsache, dass Sie ihn und Amber rausgeworfen haben, Ihre Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung – die Sie angeblich stellten, ohne Jo je getroffen zu haben.« Es kam Charlie merkwürdig vor, so etwas zu sagen. Sie sah sich eigentlich nicht als Frau, die mit den Großtaten ihres Göttergatten prahlte.
»Es war absolut wahr, was ich zu Simon gesagt habe. Es ist durchaus möglich, die Diagnose Narzissmus zu stellen, auch wenn man nur die Opfer anhört. Ich habe das schon oft erlebt.«
»Obwohl Sie in diesem Fall die Narzisstin persönlich kennengelernt hatten«, rief Charlie ihr in Erinnerung.
»Ja, das habe ich. Aber Simon kann das erst mit Sicherheit gewusst haben, als ich es ihm vor zwei Tagen bestätigte. Und wenn er das anders sieht, macht er sich etwas vor. Was er vermutlich schon sein ganzes Leben lang tut. Kinder hochgradig dysfunktionaler Eltern lernen schon sehr früh, sich selbst etwas vorzumachen. Alles ist besser, als sich der erschreckenden Wahrheit zu stellen, dass man im eigenen Elternhaus nicht sicher ist, bei den beiden Menschen, die einen eigentlich am meisten lieben sollten.«
Charlie empfand diese Form der Psychoanalyse, um die sie nicht gebeten hatte, als höchst unerfreulich. Technisch gesehen war es vermutlich sogar eine übertragene Psychoanalyse, da es schließlich um Simon ging.
»Diese Kinder lernen auch, kryptisch zu denken und zu kommunizieren«, fuhr Ginny fort. »Sie werden zu Experten darin, Zeichen zu deuten und die Atmosphäre zu erspüren. Sie fangen Hinweise auf, die anderen entgehen würden. Sie geben großartige Ermittler ab, aber die Rückschläge des Lebens nehmen sie sehr mit, weil ihr Selbst so labil ist.« Sie lächelte tapfer. Charlie kam sich vor wie das Opfer irgendeines schrecklichen Unglücks. »Wenn er Jo Utting nicht dazu bringen kann, die Geschichte zu bestätigen, die er sich über sie erzählt – und da ich ihr begegnet bin, glaube ich nicht, dass ihm das gelingen wird –, würde ich erwarten, dass er depressive Symptome entwickelt und sie auf eine Art und Weise ausdrücken wird, die alles andere als offen und direkt sein wird.«
»Warum sparen Sie sich Ihre Weisheiten nicht für zahlende Kunden auf?«, sagte Charlie ausdruckslos.
»Schon gut. Es tut mir leid.« Ginny wirkte betreten. »Wenn Sie meine Hilfe nicht wollen, werde ich sie Ihnen nicht aufdrängen.«
Charlie hütete sich, den Lieblingssatz eines jeden Verrückten am Rande eines Nervenzusammenbruchs anzubringen: »Ich brauche keine Hilfe.« Stattdessen erwiderte sie: »Wenn Simon sagt, dass er es wusste, dann wusste er es. Aber er hat nicht verstanden, warum ein Mensch, der so viele Geheimnisse hatte wie Jo, sich ausgerechnet dieselbe Therapeutin aussuchen sollte wie die Schwägerin. Erst als wir herausfanden, dass Jo annahm, Amber wäre gehorsam woanders hingegangen, wurde das klarer.«
Die Tür des Vernehmungsraums ging auf. Simon kam heraus und schloss sie hinter sich. Er wirkte nicht glücklich.
»Neuer Plan?«, fragte Ginny.
»Nein. Es bleibt bei dem, was wir vereinbart haben, obwohl …« Er unterbrach sich und schaute Charlie an, als hoffe er, sie würde übernehmen.
»Obwohl was?«, fragte sie.
»Sie täuscht eine geistige Behinderung vor – entweder macht sie Kirsty nach oder tut so, als wäre sie Kirsty. Was denkt sie sich dabei, was soll das?« Simon starrte Ginny durchdringend an, als wäre das ihr Fehler. »Wo ist der Mehrwert gegenüber einem ›Ich verweigere die Aussage‹?«
»Reden wir mit ihr darüber, in Ordnung?«, sagte Ginny, und Simon öffnete die Tür.
Charlie blieb etwas zurück, als sie die tierähnlichen Laute hörte, die aus dem Vernehmungsraum drangen. Simon schloss die Tür nicht hinter sich, als er und Ginny den Raum betreten hatten. Er erwartete, dass Charlie ihnen folgte. Sie dachte an die Aktenstapel, die in ihrem Büro auf sie warteten, und entschied dann, dass sie noch ein wenig länger würden warten müssen. Simon brauchte sie hier, ob sie nun dabei sein wollte oder nicht. Es lief nicht nach Plan. War das die Antwort auf die Frage, die er eben gestellt hatte? Jeder bei der Polizei war an Beschuldigte gewöhnt, die die Aussage verweigerten, jeder wusste, wie man damit umzugehen hatte. Tat Jo Utting so, als wäre sie ihre behinderte Schwester, um Simon zu verunsichern?
Als Charlie den Raum betrat, sah sie Jo erst gar nicht. Simon und Ginny, die
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