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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf
Autoren: Sophie Hannah
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ist doch sicher, dass Jo antwortet: »Tut mir leid, aber das ist meine Privatsache.«
    Wenn Amber darüber nachdenkt, erkennt sie, dass sie die Antwort auf diese Frage weiß, und es ist eine ziemlich verwirrende Antwort. Es ist keineswegs so, dass sie befürchtet, Jo würde es ihr nicht sagen wollen. Im Gegenteil, und so seltsam es klingt, Amber ist es, die nicht damit anfangen will. Sie hat das Gefühl, als wäre das furchtbar unhöflich, fast gewaltsam und übergriffig. Jo scheint den Vorfall vollständig aus ihrem Gedächtnis gestrichen zu haben. Am zweiten Weihnachtstag 2003 in Little Orchard verließ sie das Wohnzimmer, nachdem sie ihre Ankündigung gemacht hatte, und erschuf sofort – unverzüglich – eine alternative Version des Universums, in dem all das nie passiert ist. Das ist die Welt, in der sie jetzt glücklich und zufrieden lebt, und wenn Amber sie nach Little Orchard fragen sollte, würde sie sie aus dieser Welt herauszerren. »Es ist, als würde man zu jemandem hingehen, der sich gerade auf einer Party amüsiert, und ihm sagen, dass er in einem früheren Leben einem Genozid zum Opfer gefallen ist«, sagt Amber zu Luke. Der findet das melodramatisch. Seine Sichtweise ist anders: »Ich verstehe immer noch nicht, warum sie sich nicht einfach eine plausible Lüge ausgedacht haben, wenn sie uns die Wahrheit nicht verraten wollten«, sagt er. »Das jedenfalls hätte ich an ihrer Stelle getan.«
    Was beweist, was ich die ganze Zeit zu sagen versuche: Die meisten Menschen lieben nichts mehr als eine plausible Lüge. Mit anderen Worten, eine gute Geschichte.

2
    30. 11. 2010
    Es war fast vorbei. Detective Inspector Simon Waterhouse lächelte breit. Noch hatte es nicht angefangen, da man bei der dringenden Dienstbesprechung, die er ohne dazu befugt zu sein einberufen hatte, noch auf ihn wartete. Aber dennoch war das Ende in Sicht. Simon würde endlich herausfinden, wer Katharine Allen ermordet hatte und warum. Wenn er Glück hatte, bereits in wenigen Stunden. Es war ein gutes Gefühl, mit großer Geschwindigkeit auf dieses Wissen zuzustürmen – oder vielmehr auf irgendetwas zuzustürmen. Bis heute war ihm nicht klar gewesen, wie sehr seine eigene Langsamkeit ihn deprimierte. Den größten Teil seines Lebens war er ein großer Zögerer gewesen, er hatte geglaubt, immer erst irgendwelche theoretischen Streitgespräche mit sich selbst gewinnen zu müssen, bevor er handeln konnte. Inzwischen hielt er es für die klügere Strategie, etwas zu tun, irgendwas, und das schnell. Falsches Handeln, das zu falschen Ergebnissen führte, war ein schnellerer Weg zum Ziel als gar kein Handeln und keine Ergebnisse. Geschwindigkeit, das war alles, was zählte.
    In der Mordsache Katharine Allen hatte es fast einen Monat lang keinerlei Bewegung gegeben. Und nun, dank Simon, kam die Sache in Bewegung. Ungeduld summte in seinen Adern, ein Kraftfeld von Ruhelosigkeit, das nicht allzu weit von extremer Langeweile entfernt war, ein Kraftfeld, das an den Rändern bereits zu zischen und zu explodieren beginnt, das auf keinen Fall innerhalb seiner Begrenzungen bleiben will. Simon hatte keine Ahnung, ob seine Verwandlung in einen Menschen, der unbesonnener war als er selbst, von Dauer sein würde. Charlie hatte es Wahnsinn genannt und versucht, es ihm auszureden. Als er den Flur entlang zum Kripo-Raum eilte, malte er sich aus, wie er nachher, wenn alles vorbei war, mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht in die entgegengesetzte Richtung schlendern würde. Normalerweise bildete sein Verstand, der zurückblieb und versuchte, alle Reaktionen und Konsequenzen im Vorfeld durchzuspielen, ein Gegengewicht zur schnellen Bewegung seines Körpers.
    Wo war dieser Verstand geblieben? War er ausgelaugt vom vielen Nachdenken?
    Er wusste, was er im Kriporaum vorfinden würde, und er fand es vor: eine düstere, trübe Atmosphäre ohne jede Hoffnung. Eine Atmosphäre, die dazu führte, dass der gut ausgeleuchtete Büroraum im zweiten Stock mit seiner zeitgenössischen Möblierung wirkte wie ein unbelüfteter Kerker mit Steinwänden tief unter der Erdoberfläche. DI Giles Proust, der am Fenster stand und dem Raum den Rücken zukehrte, um auf keinen Fall den Eindruck zu erwecken, dass er auf jemanden wartete, konnte die Atmosphäre eines jeden Raums, in dem er sich befand, in die eines unterirdischen Kerkers verwandeln, nur dadurch, dass er schlechter Laune war.
    Jeder Kerker braucht Ketten, und Simon konnte die unsichtbaren Ketten sehen, die um
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