Der kalte Schlaf
bei uns. Die Worte sagten ihr gar nichts, mal abgesehen von ihren offensichtlichen Bedeutungen, und sie hatte den Eindruck, dass dasselbe auch für Hewerdine galt, als sie Charlie aufforderte zu bestätigen, dass sie diese Wörter in ihrem Notizbuch gesehen haben könnte, aber vorausschickte: ›Ich bitte Sie nicht darum, mir zu sagen, was es bedeutet.‹«
Jedes Mal, wenn er Luft holte, riskierte er, unterbrochen zu werden, und er war noch nicht fertig, noch lange nicht. »Sagen Sie’s ruhig, wenn Sie finden, dass ich voreilige Schlüsse ziehe, aber es scheint mir wahrscheinlich, dass bei Hewerdine, als sie die Worte ›Lieb‹ und ›Grausam‹ in Charlies Notizbuch sah, eine bereits existierende Assoziation zwischen diesen Wörtern und ›Liebgrausam‹ ausgelöst wurde. Sie erwähnte Charlie gegenüber auch, dass sie glaubte, diese Worte auf liniertem Papier gesehen zu haben, wie eine Liste geschrieben. Charlie fragte sich, genau wie hoffentlich Sie jetzt: Hat Hewerdine den Zettel gesehen, der von dem Block in Katharine Allens Wohnung stammte, bevor oder nachdem er abgerissen wurde?«
Irritiert von der fehlenden Reaktion seiner Kollegen, ließ Simon seiner Ungeduld freien Lauf. Es zählte nicht als An-die-Decke-Gehen, wenn man es bewusst tat. »Sehen Sie denn nicht, was für ein Glück wir hatten, dass uns das in den Schoß gefallen ist? Ich würde mit jedem von Ihnen wetten – egal, um wie viel, nennen Sie Ihren Einsatz –, dass Amber Hewerdine Katharine Allen nicht getötet hat, aber uns zu dem Täter führen wird.«
Proust drehte sich langsam um. Eine Miene wie sauer gewordene Milch. »Rein zufällig …«, setzte der Inspector an. Die Worte trippelten mit den leichten Schritten einer Balletttänzerin daher. Simon sah Sam Kombothekra leicht zusammenzucken, so grotesk war das Missverhältnis zwischen Prousts Tonfall und seinem hohnverzerrten Gesicht. »Rein zufällig trifft die unvorteilhaft verheiratete Mrs Simon Waterhouse in Great Holling vor den Praxisräumen einer Hypnose-Quacksalberin auf eine Frau, die mit dem Mord an Katharine Allen zu tun hat.« Proust hob den Zeigefinger. »Eine Frau, die rücksichtsvoll genug ist, unaufgefordert auf ihre Verbindung mit einem Mordfall zu sprechen zu kommen.« Er schüttelte den Kopf und lächelte. Lila Flecken hatten sich auf seinen Wangen gebildet. Es war ein seltsamer Gedanke, dass sein Blut ebenso rot und warm sein musste wie das aller anderen Menschen. »Das ist kein Glück. Das ist ein dermaßen unwahrscheinlicher Zufall, dass ich gewillt bin, mich weit aus dem Fenster zu lehnen und zu behaupten, dass es so nie passiert ist. Sergeant Kombothekra und DC Sellers täten gut daran, sich ein Beispiel an mir zu nehmen, wenn ihnen etwas an ihrer Polizeilaufbahn liegt.«
Proust ging so langsam auf Simon zu, dass kein Zweifel daran blieb, wie sehr ihn der Gedanke anwiderte, an seinem Ziel anzukommen. »Ihnen liegt ja offensichtlich nichts daran«, sagte er. »Sie erzählen hier ganz einfach – ohne jede Erklärung oder Entschuldigung, als hätte es gar nichts mit Ihnen zu tun –, dass Sergeant Zailer mit einer Abfolge von Worten vertraut ist, die sie von Rechts wegen gar nicht kennen dürfte. Wir schließen also aus Ihrer Geschichte, dass Sie gegen das Datenschutzgesetz verstoßen haben – und zudem das Dienstgeheimnis verletzt haben, wenn wir pedantisch sein wollen …«
»Charlie ist nicht nur meine Frau«, sagte Simon. »Sie ist bei der Polizei.«
»Würde ich kaum so bezeichnen«, blaffte Proust. »Gehört sie nicht zu dem Team, das an irgend so eine hirnrissige Wohlfühl-Expertenkommission verpachtet wurde und den Auftrag hat, die Einwohner des Culver Valley davon abzuhalten, sich vor den Zug zu werfen? Das ist eine Arbeit für unbezahlte Schultern-zum-Ausweinen, nicht für die Polizei, selbst wenn Idioten in Polizeiuniformen sie durchführen.« An Sam und Sellers gewandt, fügte Proust hinzu: »Findet denn niemand außer mir es bemerkenswert, dass Sergeant Zailers berufliches Interesse am Suizid unmittelbar nach ihrer Eheschließung mit Waterhouse einsetzte?«
Es war, als hätte man sämtliche Bewohner der Hölle im Büro, dachte Simon. »Charlie war früher hier bei uns, und sie ist eine bessere Ermittlerin als die meisten Leute in diesem Raum«, sagte er. »Es ist mir egal, was das Datenschutzgesetz sagt. Wir alle wissen, es gibt keinen guten Grund dafür, dass ich nicht mit Charlie über Katharine Allen reden sollte, und es war ein Glück, dass ich
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