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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Hannah
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Kirsty? Wie ist sie so geworden?«
    »Ich weiß es nicht, Nones. Ich kann nicht danach fragen.« Einmal habe ich es versucht, ganz taktvoll, und wurde heftig dafür kritisiert.
    »Ich bin froh, dass Nonie meine Schwester ist«, sagt Dinah. »Ich würde es furchtbar finden, eine Schwester wie Kirsty zu haben. Ich könnte sie nicht liebhaben. Man kann niemanden lieben, der so ist.«
    »Dinah! Das ist …« Ich breche ab. Es ist furchtbar, so etwas zu sagen, wollte ich eigentlich sagen, aber vielleicht ist es schlimmer, eine Achtjährige dazu zu bringen, sich schuldig zu fühlen, weil sie offen über ihre Empfindungen gesprochen hat. »Jo hat Kirsty sehr lieb«, sage ich stattdessen. »Und wenn ihr eine Schwester wie Kirsty hättet, würdet ihr sie sicher auch liebhaben, weil …«
    »Würde ich nicht«, beharrt Dinah. »Ich würde es nicht zulassen. Wenn jemand so ist wie Kirsty und nicht sprechen kann, weiß man ja nicht, ob er ein netter Mensch ist oder gemein. Stell dir vor, du liebst so jemanden, und dabei war er die ganze Zeit ein Fiesling, nur dass die Bosheit verborgen ist, sodass man nichts davon bemerkt.«
    Ich bemühe mich, meinen Schock zu verbergen. »So ist es nicht, Dines. Bei Kirsty ist es nicht so wie bei den meisten Leuten, sie ist weder nett noch nicht nett. Dafür ist ihr Verstand nicht genug entwickelt. Geistig ist sie fast wie … also, wie ein Baby.«
    »Woher weißt du das, wenn du nicht weißt, was ihr fehlt? Woher willst du wissen, dass sie nicht der freundlichste oder der gemeinste Mensch auf der Welt ist, nur dass es niemand merkt, weil sie nicht sprechen kann?«
    »Manche Babys sind ziemlich gemein, glaube ich«, bemerkt Nonie. »Die, die so zornig schreien. Ich weiß, alle Babys schreien, aber manche schreien auf traurige Art. Ich glaube, das sind die Netten.«
    Wenn Sharon hier wäre, würde sie wissen, wie sie mit diesem Schwall bizarrer Theorien ihrer Töchter umgehen sollte? Ich schließe die Augen. Fang nicht damit an. Konzentrier dich auf irgendwas anderes: den Müll, die komplizierten Symbole auf dem Armaturenbrett . Ich darf nicht anfangen, an Sharon zu denken; ich muss mit intakten Selbstschutzmechanismen bei Jo eintreffen.
    Wie viel ist achtundfünfzig plus dreiundsechzig?
    »Amber!«
    Dinahs Stimme bringt mich zurück. Ich muss für ein paar Sekunden eingeschlafen sein. Es wäre schön, wenn ich behaupten könnte, dass ich mich erfrischt fühle, aber das wäre nicht wahr. Es ist eher so, als hätte mir jemand schweren Nebel ins Gehirn gepumpt. Ich seufze und lasse den Motor an. Ich sollte beim Fahren einen Vortrag über den naturgegebenen Wert allen menschlichen Lebens halten, aber dazu fehlt mir die Kraft. Stattdessen lasse ich die Kinder schwören, Jo nichts von unserem Gespräch über Kirsty zu erzählen. Niemals.
*
    »Hallo, hallo! Kommt herein!« Jo hält uns die Tür auf, ein breites Lächeln im Gesicht. Heute umgeben ihre Haare ihr Gesicht wie eine Wolke, sie hat sich also nicht die Mühe gemacht, morgens ihr »spezielles Zeug«, wie sie es nennt, anzuwenden, das jede einzelne Locke schön definiert. Ich schaue Jo an und sehe eine Frau, die so offensichtlich herzlich und freundlich ist, dass mir fast peinlich ist, wie oft ich geargwöhnt habe, dass sie ganz anders ist. So sieht meine erste Reaktion immer aus. Etwas an ihrem plötzlichen Anblick ermutigt mein Gehirn, sich selbst Streiche zu spielen.
    Sie trägt ausgeblichene, zerlöcherte Jeans und ein enges orangefarbenes Rundhals-Shirt und strahlt uns an, als hätten wir ihr durch unser Erscheinen den Tag gerettet. »Hallo, Schätzchen, wie geht’s? Hallo, Nones – hast du die Mathestunde überlebt? Amber, Süße, du siehst total erledigt aus. Wenn du mal für zehn Minuten die Augen zumachen willst, kannst du dich gern im Schlafzimmer hinlegen. Da wird dich niemand stören. Ich mach dir eine Wärmflasche, wenn du willst.«
    Ich würde gern zehn Jahre die Augen zumachen . »Mir geht’s gut, danke.« Natürlich würde mich jemand stören. Niemandem würde es gelingen, in Jos Haus für mehr als dreißig Sekunden allein zu bleiben. Dafür wandern viel zu viele Leute herum. Im Hintergrund kann ich Quentin, Sabina und William reden hören, alle gleichzeitig. Von oben kommt ein unregelmäßiges galoppierendes Geräusch, das ich schon unzählige Male gehört habe: Kirsty rennt über den Flur, dicht gefolgt von Hilary.
    »Sicher?«, fragt Jo.
    »Es klingt verlockend. Aber ich würde sowieso nicht schlafen können, und dann

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