Der kalte Schlaf
würde ich mich noch schlechter fühlen.«
»Du Ärmste. Es muss furchtbar für dich sein.«
Ich lächle gezwungen und denke daran, wie sie mich einmal ungeduldig gefragt hat, ob ich mal darüber nachgedacht habe, dass ich einfach nicht müde genug sein könnte, weil ich tagsüber nicht hart genug arbeite und daher nachts nicht schlafen könne.
So mache ich es immer. Wenn sie nett zu mir ist, fallen mir all die Verletzungen ein, die sie mir im Laufe der Jahre unwissentlich zugefügt hat. Ist sie kalt und unsensibel, ist es ihre lange Liste guter Taten, die lautstark um meine Aufmerksamkeit kämpft. Ich bemühe mich, sie als Ganzes wahrzunehmen, aber es gelingt mir nie so richtig. Ich weiß nur, dass sie ganz und gar nicht so ist wie ich. Es wäre zu einfach, den Unterschied zwischen uns damit zu erklären, dass sie launenhafter ist als ich oder im Gegensatz zu mir nicht dazu neigt, etwas übelzunehmen. Ich kenne andere Sonderlinge – Luke zum Beispiel –, die in der Lage sind, zu vergeben und zu vergessen, aber bei Jo ist es, als würde sie innerlich auf »Löschen« drücken und alles, an das sie sich nicht erinnern will, wie Little Orchard, wird von der Festplatte gefegt, als hätte es nie existiert, was es ihr ermöglicht, mich anzugrinsen wie eine ekstatische Idiotin, die sich an nichts erinnert.
»Erde an Amber, wie Barney sagen würde!«
Hat sie mich etwas gefragt? »Mir geht’s gut, Jo, wirklich.« Es ist zu früh am Abend, um analytisch zu denken. Ich habe noch nicht mal meinen Mantel abgelegt, und bislang ist nichts vorgefallen, das analysiert werden müsste. Benimm dich wie ein normaler Gast. Bitte um einen Tee.
»Du sehnst dich bestimmt nach einem schönen heißen Tee«, sagt Jo wie aufs Stichwort. In diesem Haus bekommt man angeboten, was immer man wünscht oder braucht, bevor man Gelegenheit hatte, darum zu bitten. Es ist seltsam entmündigend.
Gott, was bin ich für eine gehässige Zicke. Wie können die Leute mich nur ertragen? Vielleicht kann es ja keiner.
Sharon konnte dich gut ertragen. Wenn du anfingst, auf anderen Leuten rumzuhacken, lachte sie nur. Deshalb warst du auch immer viel freundlicher, wenn du mit ihr zusammen warst. Du wusstest, es hatte keinen Sinn, ätzende Bemerkungen zu machen – sie würde dich trotzdem mögen, die sture Kuh.
»Deinem Gesicht nach zu urteilen, hast du einen harten Tag hinter dir«, sagt Jo. »Weißt du was, du kannst einen von meinen neuen schicken Teebeuteln haben – jeder Teebeutel ist einzeln kuvertiert. Nur das Beste für dich.«
»Hervorragend umsorgt wie immer«, entgegne ich mit gespielter Großartigkeit, und sie lacht, als sie in die Küche zurückgeht, den Raum, den sie freiwillig nie länger als fünf Minuten am Stück verlässt.
Dinah und Nonie sind mit William und Barney im Esszimmer verschwunden. Ihre Daunenmäntel haben sie auf dem Boden liegen lassen. Ich hebe sie auf, ziehe mir den Mantel aus und versuche, alle drei an einen Haken zu hängen. Wie gewöhnlich erfolglos. Jeder, der in Rawndesley oder um Rawndesley herum lebt, hat irgendwann einmal bei Jo vorbeigeschaut, seinen Mantel, seine Windjacke, seinen Dufflecoat oder Regenmantel an ihrer Garderobe aufgehängt, ist ohne sie gegangen und hat die Sachen nie abgeholt. Einmal stand ich da, wo ich jetzt stehe, und hörte zu, wie Neil mit leichter Überraschung in der Stimme sagte: »Schau an, der hier gehört Mrs Boyd von gegenüber, und … oh ja, ich glaube, der gehört Sabinas Mutter, sie war ja mal aus Italien zu Besuch, und ich glaube, Jo sagte, der hier gehört jemandem aus Sabinas Pilates-Kurs.«
Jo ist eine ganz andere Art Hausfrau als ich. Nicht, dass ich mich je so bezeichnen würde. Ich organisiere meinen Haushalt zum Wohl der Menschen, die darin leben: für mich, Luke, Dinah und Nonie. Jo führt ihren Haushalt zum größeren Wohl der Menschheit. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie Quentin nach Pams Tod Williams Zimmer gegeben hat. William und Barney teilen sich jetzt das winzige Arbeitszimmer, das kaum groß genug für ein Kind ist, geschweige denn für zwei.
Ich lasse unsere Mäntel auf einen Stuhl fallen und stoße auf dem Weg in die Küche fast mit Neil zusammen, der aus der Gästetoilette auftaucht, mit ans Ohr geklemmtem Handy. »Das spielt keine Rolle«, wettert er gerade. »Sie wissen doch, wie das abläuft. Man macht ein Angebot, man nennt einen Pauschalpreis. Wenn man länger braucht, als man gedacht hat, kommt man nicht an und verlangt mehr Geld. Man
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