Der kalte Schlaf
der richtigen Hilfe, plötzlich durchblicken wird und sie ihre angeborenen mathematischen Fähigkeiten, die so lange brachlagen, erschließen kann. Daran glaube ich keine Sekunde, aber da mir der Gedanke verhasst ist, dass mein Pessimismus ihre Chancen im Leben schmälern könnte, lüge ich.
»Es gibt keinen Grund, sich vor Mathe zu fürchten, Nonie.« Doch, den gibt es. Man hat allen Grund, vor etwas Angst zu haben, was man hasst und nicht loswerden kann. »Ich stelle dir eine neue Rechenaufgabe – und Dinah, bitte sag ihr diesmal nicht die Lösung. Lass mich versuchen, ihr die Methode zu erklären. Nones, wenn du erst einmal verstanden hast, welche Strukturen …«
»Ich werd’s nie kapieren«, sagt Nonie ruhig. »Es hat keinen Zweck. Dürfen wir Lady Gaga hören?«
»Erst erzählst du mir von Mrs Truscott«, beharrt Dinah.
»Habe ich doch schon.« Ich lange hinter mich und drücke ermutigend Nonies Knie. Ich sollte nicht zulassen, dass Dinah ihre Schwester überfährt, aber ich spüre, Nonie hofft heimlich, dass ich keine Einwände gegen den Themenwechsel erheben werde. »Dein Stück steht wieder auf dem Spielplan.«
»Aber was hast du gesagt? Wie hast du sie überredet?«
»Können wir Lady Gaga hören, Amber?«
Ich knirsche mit den Zähnen. Wir haben nicht einmal die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Es gibt einen Grenzwert dafür, wie viele laute, hämmernde Songs ich unmittelbar nach einem Mathe-Zusammenbruch ertragen kann. Meine heimliche Regel lautet: Keine Musik, bevor wir am chinesischen Supermarkt Ecke Valley Road und Hopelea Street vorbeigekommen sind. Wenn ich Dinah und Nonie nur beibringen könnte, Dar Williams oder Martha Wainwright zu lieben, dann würde ich sie gern den ganzen Weg von der Schule bis zu Jo Musik hören lassen.
»Amber? Dürfen wir?«
»Sag mir, was Mrs Truscott gesagt hat!«
»Gleich, Nones.« Ich gehe das Risiko ein, kurz beide Hände vom Lenkrad zu nehmen und sie anzuhauchen, ein vergeblicher Versuch, sie aufzuwärmen. »Ich habe einfach … ich weiß nicht, Dinah, ich kann mich nicht an jedes Wort unseres Gesprächs erinnern. Ich habe ihr versichert, wie viel dir das Stück bedeutet …«
»Du lügst. Ich weiß immer, wann du lügst.«
»Selbst wenn ich dir den Rücken zugekehrt habe? Das ist nicht fair.«
»Was ist nicht fair?« Nonie ist beunruhigt, dass sich eine Ungerechtigkeit an ihr vorbeigeschlichen haben und ihr entgangen sein könnte.
»Dass Dinah weiß, dass ich lüge.«
»Warum ist das nicht fair?«
»Weil ich eine Erwachsene bin. Seit Ewigkeiten. Ich habe mir das Recht verdient, mit mehr durchzukommen, als ich sollte.« Wenn ich nicht lüge, bin ich zu ehrlich. Ich weiß, später werde ich Nonie erklären müssen, was ich mit dieser Bemerkung gemeint habe – sobald ich damit fertig geworden bin, ihr die Welt der Mathematik zu erklären.
»Womit hast du ihr gedroht?« Dinah lässt sich nicht ablenken. »Sie hätte keinen Rückzieher gemacht, wenn du ihr nicht mehr Angst eingejagt hättest als die Eltern, die sich vorher beschwert haben.«
»Siehst du mich so? Als jemanden, der lügt, andere bedroht und einschüchtert?«
»Ja.« Nach einer Pause fügt Dinah hinzu: »Vielleicht ist es doch keine so gute Idee, dass ihr uns adoptiert, Luke und du.«
»Sag das nicht!«, jammert Nonie. Klasse, jetzt weint sie schon wieder. »Doch, es ist eine gute Idee. Die allerbeste.«
Ich weiß nicht genau, ob mein Herz noch schlägt. Das Auto bewegt sich weiter vorwärts, das muss ein gutes Zeichen sein.
»Wenn ihr uns adoptiert, werdet ihr so richtige Eltern. Eltern-Eltern«, erklärt Dinah. »Du wirst nicht mehr die tollen Sachen machen, die du immer machst, wie zum Beispiel Mrs Truscott einschüchtern. Du lachst immer über die blöden Sachen, die die Eltern unserer Freundinnen sagen und tun, über ihre dummen elternhaften Regeln. Wenn du uns adoptierst, wirst du so dämlich werden wie sie.«
Erleichterung durchflutet jeden Zentimeter meines Körpers. »Ich werde nicht elternhaft werden. Ich versprech’s.« Wenn sie der Adoption zustimmen, wenn Marianne nicht alles ruiniert .
»Also, wie hast du es angestellt? Mit Mrs Truscott?«
»Amber, ist siebzehn plus drei zwanzig?«, will Nonie wissen.
»Ja. Gut gemacht.« Das macht sie immer, und es erfüllt mich mit schmerzlicher Liebe zu ihr. Da sie befürchtet, eine Enttäuschung für uns alle zu sein, weil sie die schwerere Aufgabe nicht lösen konnte, stellt sie sich eine einfachere Aufgabe und löst sie
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