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Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Titel: Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bottini
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hatte das Feuer überstanden. Ein Ort der kurzen, stillen Andacht für Gläubige, die auf dem Weg durch das Tor innehielten, um zu beten.
    Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie allein war – Marković war nicht zu sehen, auch Zvonimir war verschwunden.
    Da drang ein Flüstern an ihr Ohr, eine heisere Stimme wisperte etwas auf Kroatisch. Die alten Gemäuer warfen das Echo zurück, ein vielfaches Zischen, die Wörter verschwammen ineinander, sie glaubte smrt zu verstehen, »Tod«, vielleicht na život i smrt , »auf Leben und Tod« …
    Sie wollte lachen, brachte keinen Ton heraus. Rasch eilte sie ins Freie. In der Nähe erklang ein Motor, der immer lauter wurde, auf dem Kopfsteinpflaster das Stakkato sich rasend schnell drehender Räder – Marković’ schwarze Limousine raste auf sie zu.
    Dann bremste der Wagen hart und blieb ein paar Meter vor ihr stehen.
    Schauer liefen ihr über den Nacken. Die Begegnung geplant, der Spaziergang vorbereitet, genauso dessen abruptes Ende. Sie wollten ihr Angst einjagen.
    Aber wer, dachte sie, wer? Marković und wer? Die Armee? Die Regierung? Eine Kriegsveteranenorganisation? Von Ante Gotovina gesteuerte Nationalisten?
    »Eine Stadt voller Mythen und Legenden«, sagte Marković hinter ihr.
    Sie fuhr herum.
    Er bückte sich, wischte sich Staub von den Knien. Auch Zvonimir war wieder da.
    »Sie sind blass, gospođo , ist Ihnen nicht gut?«
    »Ich bin nur müde.«
    Müde, verängstigt, wütend.
    Am liebsten hätte sie kehrtgemacht. Doch hier, am Rand der Oberstadt, war noch immer niemand außer ihnen zu sehen. Hundert Meter weiter, auf dem Markusplatz, wo sich das kroatische Parlament befand, gab es zumindest Wachposten und Kameras.
    Sie gingen weiter, an der Limousine vorbei. Die Angst blieb, ein Kribbeln im Nacken, Zvonimir wieder dicht hinter ihnen, jetzt wendete der Wagen und folgte, der Motor brummte drohend.
    Auf nicht einmal einem halben Quadratkilometer drängte sich hier oben ein Großteil des politischen, historischen und kulturellen Lebens von Zagreb. Gepflasterte Gassen, Gebäude mit selten mehr als zwei Stockwerken, Museen, staatliche Institutionen, die Markuskirche. Doch keine Lokale, Cafés, Diskotheken – nach Dienstschluss war Gornji grad wie ausgestorben.
    Im Schimmer der Nacht leuchtete das rot-weiß-blaue Ziegeldach von St. Markus mit den beiden großflächigen Wappen des früheren Königreichs und Zagrebs. Sie traten auf den Platz, dessen rechte Flanke das beleuchtete Parlamentsgebäude einnahm. Fast reglos hingen über einem der Eingänge zwei Flaggen, die kroatische mit dem rot-weißen Schachbrettmuster und die der Europäischen Union. Hinter den Fensterscheiben erhellte Räume, aus einer Tür traten zwei Männer, stiegen in eine schwarze Limousine, die der von Marković glich.
    Ahrens atmete auf. Nun musste sie nur noch unversehrt nach Hause kommen.
    Marković hob eine Hand und deutete auf den Sabor. »Das frei gewählte Parlament des demokratischen Staates Kroatien.«
    »Mit der Ustaša-Flagge.«
    »Nein, nein, es gibt einen Unterschied. Die Ustaša-Flagge beginnt links oben mit einem weißen Quadrat, die neue, demokratische mit einem roten.«
    »Ob die kroatischen Serben den Unterschied aus der Entfernung sehen konnten?«
    »Wer sehen will, der sieht.«
    »Nach der Unabhängigkeit hat der demokratische Staat Kroatien die Ustaša-Version als Wappen gewählt. Erst nach Intervention der EG wurde das geändert.«
    »So?« Er zuckte die Achseln. »Ein Staat, der nach fast neunhundert Jahren unabhängig wird, begeht in der Aufregung Fehler.«
    Marković hatte den Ustaša-Staat von 1941 übersprungen, doch sie hakte nicht nach. Sie konnte sich die Antwort denken: Ein Staat von Hitlers Gnaden war nicht unabhängig.
    »Fehler wie Morde und ethnische Säuberungen?«
    »Sie haben auf alles eine Antwort, nicht wahr?«
    »Leider nein.«
    Ein Taxi kam die Straße herauf, hielt vor dem Sabor. Eine Frau stieg aus.
    »Weshalb schreiben Sie nicht über die Gräueltaten der Serben? Über Srebrenica, Goražde, Sarajevo, die Konzentrationslager, die Massenvergewaltigungen, die ethnischen Säuberungen?«
    »Weil darüber schon viel geschrieben wurde. Es ist Zeit, auch einmal einen anderen Blick auf den Krieg zu werfen, bevor das, was es noch zu erzählen gibt, vergessen oder verdrängt wird.«
    Das Taxi fuhr in ihre Richtung weiter. Sie hob die Hand, der Fahrer blendete auf und verlangsamte.
    Marković’ Hand lag auf ihrem Arm. »Alles, worum ich Sie bitte, ist: Geben Sie

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