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Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Schindel
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hüben zu ihm her wehte. Wais fühlte sich von einer sanften, aber
bestimmenden Vertikalspannung erfasst, gerade dass er sich nicht während des Händedrucks auf die Zehenspitzen stellte. Bundespräsident Körner heute, Bundespräsident Wais übermorgen, dachte Johann. Nachdem er etwas mit sich gerungen hatte, offenbarte er Aglaja dieses Sehnen, das ihn seit dieser Begegnung durchpulste. Sie lagen im altväterischen Bett der Schwiegereltern, damals noch in der Metternichgasse in deren Wohnung, welche ihnen zur Verfügung gestellt worden war, unter einem Himmel, behegt und eingeengt zugleich. Aglaja hatte sich auf ihren Ellenbogen gestützt, sah auf seinen Kopf herunter, da er wegen seines Geständnisses steif und ängstlich auf dem Rücken lag und kleine Schweißbächlein um die beiden Nasenmundfalten hinunterliefen. Er erinnerte sich genau daran, denn Aglaja beugte sich zu ihm und leckte, indem sie ihn auf die Wangen küsste, die Schweißtropfen weg. Sie hob die rechte Hand zum Schwur und sagte lächelnd: »Du wirst einst Bundespräsident werden. Du wirst ein besserer sein als Körner. Du wirst in die österreichische Geschichte eingehen. Das machen wir. Wir schaffen es gemeinsam.«
    Wais hörte ein lautes Hupen. Ein Fiakerpferd legte die Ohren an, schnaubte durch die Nüstern. Was wollen die Roten andauernd von ihm? Warum können sie seinen Sieg nicht anerkennen? Was habe ich ihnen denn getan, dass sie mich so attackieren. Ich weiß eigentlich nicht, dachte Wais und setzte das Opernglas ab, was sie mir vorwerfen. Ich habe doch meine Biographie nicht geschönt, ich habe das Wesentliche hineingeschrieben, das tun andere auch. Ich habe am Balkan nichts zu bestellen gehabt, ich war ein kleiner 1c. Ich war froh, wenn ich die Meldungen weitergegeben habe, nachdem ich meine Paraphe drauf gemacht habe oder meine Unterschrift. Ich habe doch das
Ganze höchstens überflogen, damit ich nicht irrtümlich mein eigenes Todesurteil unterzeichne, wie der Peter Nekula mir einmal geraten hatte. Ich muss den Nekula anrufen. Wir waren damals so eng in Priština und Tirana, mehr als zur Schulzeit. Ich habe mich hauptsächlich nach der Aglaja verzehrt, meinen Dienst gemacht und ihr Briefe geschrieben.
    Wais ging vom Fenster weg und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Der steht aber ungünstig, dachte er. Ist der immer so dagestanden? Er muss gedreht werden. Ungefähr so. Wais breitete die Arme aus, fuhr mit der linken Hand nach vorne, mit der rechten nach hinten. Er verrückte den Stuhl. Dann griff er zum Telefon.
     
    Mitte September traf die Familie Segal endgültig in Israel ein. Von Lod ging es nach Jerusalem, wo Ernst Segals Cousin sie zu dem Haus in der Ussishkin Street brachte, das er für sie gefunden hatte.
    Dolores musste sofort zum Ulpan. Ihre Mutter verfügte, dass Dolly das größte und auch schönste Zimmer beziehen durfte, doch Dolly schob die Koffer unter das Bett und weigerte sich, ihr Zimmer einzurichten. Einen Monat lang weinte sie die Nächte durch. Sie schrieb lange Briefe an Stefan Keyntz, bekam kurze und beleidigte Antworten.
    Sie begann die Internationale Schule in der Hashomron Street zu besuchen und wurde jeden Tag von Meschullah Weinberg, den Ernst Segal kurzerhand als Chauffeur eingestellt hatte, nach Tel Aviv gefahren. Acht Wochen nach ihrer Ankunft ließ sie sich von Meschullah küssen, ihre nächtlichen Tränen versiegten, und sie holte die Koffer unter ihrem Bett hervor.
    6.
    Martin Moldaschl saß den beiden Herausgebern der Stunde gegenüber und wedelte den Zigarettenrauch, den sie zu ihm bliesen, wieder zurück. Wenn sie aus dem Fenster des achtzehnten Stockes blickten, konnten sie vom Norden her auf die ganze Wienerstadt schauen. Aber keiner tat es, ihre Gesichter waren einander zugewandt, bildeten ein festes gleichseitiges Dreieck, eine Kraftfigur, einen Energieraum, der sich alsobald zur Stadt und zum Land hin öffnen würde, um einen Sturm zu entfachen.
    »Die linke Jagdgesellschaft«, sagte Moldaschl, »ist vollständig angetreten. Sie werden nicht ruhen noch rasten, bis sie den Wais erlegt haben. Ihr wisst, ich kenne die Sozis und ich rieche ihre Verbündeten, ob hiesige oder drübere.«
    »Es handelt sich nicht bloß um Wais«, sagte der jüngere der beiden Herausgeber. »Dieser Brachialbolschewik Krieglach –«
    »Das ist gut. Sehr gut«, unterbrach ihn Moldaschl, »das schreib ich mir auf.«
    »Geschenkt. Krieglach hat deinen Freund Purr herumgekriegt. Jetzt stellt er sein Schandmal vor

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