Der Kalte
Pflichterfüllung war ein finsteres Stück über den Judenrat in einer nicht näher bezeichneten ungarischen Provinzstadt neunzehnvierundvierzig im nunmehr von den Deutschen besetzten Land. Nemecsek entwickelte einen Konflikt zwischen dem Vorsitzenden des Judenrats Salomon Ruben und dessen Sohn Benjamin. Der Vater versuchte mit den Deutschen auszukommen, zu kooperieren, um das Schlimmste zu verhindern. Der Sohn schämte sich dafür, er wollte kein Kollaborateur sein. Er nannte seinen Vater höhnisch HEILSBRINGER , weil der den Jidden nur das Heil des Führers brachte, und dieses Heil war der Tod.
Obwohl so duster, konnte Nemecsek nicht anders: Er kalauerte und alberte in diesem Nachtmahr nach Worteskräften, sodass ein künftiges Publikum nicht wissen würde, ob es weinen oder loslachen sollte und durfte. Doch so waren die Stücke Zoltáns, egal, ob sie vom Judenrat handelten oder vom Kampf eines Landstreichers mit einem Marder in der amerikanischen Prärie.
Wie weit geht Pflichterfüllung? Wer kann das wissen?
Peter Adel erfuhr von dem Stück, fuhr nach Berlin, Zoltán machte ihm einen Tee in der Fasanenstraße und las ihm mit seiner leisen nuschelnden Stimme das Stück vor.
»Das wäre doch etwas für Schönn«, sagte Adel und verzog schmerzlich sein Gesicht. »Es wäre ein Statement, dass wir Juden die Weisheit und Güte nicht erfunden haben.«
»Erfunden vielleicht schon«, sagte Nemecsek. »Aber was ist daraus geworden?«
»Du sagst es.«
»Merkwürdig, Peter, dass du ans Burgtheater gedacht hast. Aber gehört es jetzt nach Wien? Damit der Wais auf uns zeigen kann? Die haben damals auch nur ihre Pflicht erfüllt?«
»Genau deswegen, verehrter Zoltán. Gib dem Goi das Stück.«
»Nichts anderes habe ich vor.«
»Du willst doch nicht, dass ich es inszeniere?«
»Doch.«
»Dann ist es ja gut.«
Dietger Schönn bekam Bauchschmerzen, als er das Stück las. Er gab es an Scherfele weiter.
»Hör zu. Ich will dieses Stück überhaupt nicht haben. Ich will den Waiskonsorten keinen Gefallen tun. Also lies es schnell, Rüdiger, und sag mir, dass es ein schlechtes Stück ist. Allez hopp!«
Scherfele las es in den nächsten drei Stunden. Er ging hernach die ganze Nacht in seiner Wohnung hin und her. In der Früh las er es nochmals, Satz für Satz. Um zehn erschien er im Büro. Dietger saß dort und wartete.
»Das müssen wir machen«, sagte Scherfele und warf das Stück auf Dietgers Schreibtisch.
»Peter hat uns ein Ei gelegt«, lachte Schönn.
»Von Nemecsek nicht zu reden«, sagte Scherfele. »Peter inszeniert es, oder willst du?«
»Bewahre.«
»Eben. Es ist ein mordsmäßiger jüdischer Beitrag. Passt jetzt punktgenau hierher.«
»Ach was.«
»Dietger. Wie sagst du immer? Theater muss verändern und empören, sonst ist es ein Scheißhaus.«
»Schon gut. Habe nichts anderes von dir erwartet. Sei so
gut, schmeiß du unsere Programmplanung um! Premiere im Herbst, Probenbeginn in drei Wochen, nicht später.«
»Tja, aber Muthesius.«
»Auf den huste ich jetzt. Von dem lasse ich mich nicht vergackeiern. Der soll mal das Stück fertigstellen.«
»Er wird gekränkt sein.«
»Er wird gekränkt sein? Wann ist der nicht gekränkt?«
»Er ist immer gekränkt.«
»Eben. Und den Macbeth kippen wir im Herbst raus. Dabei rennt er so gut.«
»Das geht nicht, Dietger. Das muss im Herbst noch laufen, oder? Unterbrechen wir lieber die Phädra. Adel geht, Adel kommt.«
»Ich habe dir doch gesagt, schmeiße du die Planung.«
»Peter muss schnell besetzen. Und er kriegt nicht alle, du weißt.«
Schönn ging aus dem Zimmer.
»Er kann alle haben. Alle. Sogar Bonker, wenn er darauf besteht.« Noch von draußen war sein Lachen zu hören.
Ich bekam zeitgleich mit Karel das Stück. Es gibt eine einzige weibliche Partie, die darf hübsch ich spielen. Das Stück ist wie alle Stücke von Nemecsek von einer Beiläufigkeit, die einen aber ins Herz schneidet. Ich sollte die jüdische Fürsorgerin Ilona Loeb geben, und das tat ich. Die Frau ist im Stück fünfzig, na ja. Karel hat ne tolle Rolle, den Sohn Benjamin Ruben, der nicht verstehen kann, dass sein Vater sich mit den Nazis zu arrangieren versucht. Zwischen den beiden gibt es spannende Szenen. Doch den Alten wollte Adel nicht mit Felix besetzen, sondern mit dem Komödianten Vesely, der doch ständig dem Dietger und uns Deutschen überhaupt Stress gemacht hatte. Der hatte monatelang getönt, dass ein Piefke nicht das österreichische Na
tionaltheater
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