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Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Schindel
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schaute zu
Jungnickel hoch. Der nahm die fast leere Mappe, besann sich, legte sie auf den Tisch zurück. »Die Einladungsliste für deine Staatsbesuche ist kurz, wenn man das überhaupt Liste nennen mag. Dubai. Vatikan.«
    »Vatikan ist gut«, murmelte Wais.
    »Ich muss mich jetzt verabschieden, wenn du gestattest.« Er nickte Novacek zu und ging. Novacek betrachtete den aufrecht dasitzenden Präsidenten. Der wendete den Kopf zu Adrian.
    »Ich kann nicht lügen. Ich kann nicht absichtlich lügen. Ich kann es nicht.«
    »Wir werden uns etwas anderes einfallen lassen«, sagte Novacek.
     
    Es fiel ihnen nichts ein. Ein Sturm der Empörung ging los. Nach einigen Tagen nahm seine Heftigkeit zwar ab, doch jugoslawische Zeitungen, solche aus den USA und aus Israel hielten die Salonikigeschichte am Köcheln. Johann Wais verbrachte den Winter sechsundachtzig/siebenundachtzig in der Hofburg und duckte sich bei immer wieder neuen Anschuldigungen und Vorwürfen bloß weg, sagte von Zeit zu Zeit in eine Fernsehkamera: »Ich habe ein reines Gewissen« und breitete dabei seine Arme aus.
    In der Redaktion des Signal beschloss man, an der Sache Wais dranzubleiben. »Wir sind das Kamel«, sagte Klingler in der Redaktionskonferenz nach Neujahr, »welches das Gras wegfrisst, das über die Sache zu wachsen beginnt.«
    15.
    In den letzten drei Monaten, Weihnachten bis Dreikönig ausgenommen, trafen Edmund Fraul und Wilhelm Rosinger einander wieder regelmäßig beim Praterer. Donnerstags um eins betrat Wilhelm das Gasthaus, zumeist zehn Minuten später Edmund. Seit sie begonnen hatten, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen, die alle im Lager spielten oder auf es zurückzuführen waren, hielt es sie nicht am Wirtshaustisch, sodass sie nach der Einnahme des Mittagessens stets die Friedensgasse hinuntergingen und den Weg über die Jesuitenwiese Richtung Praterstadion einschlugen. Fraul hatte festgelegt, dass jeweils Rosinger beginnen musste; jedes Mal hob Rosinger stockend und mit leiser Stimme an, bis endlich die Geschichte wie von selbst aus seinem Mund herauszuströmen begann. Die einzigen Zuhörer außer Fraul waren die vom Winter arg zerrupften Bäume, die links und rechts des Weges standen und ihre halbmorschen Zweige im Wind bewegten. Es kam vor, dass auch das Wetter unangenehm war, dass Nebelfetzen, gefüllt mit vereisten Schneeflocken, den sprechenden und lauschenden Spaziergängern ins Maul fuhren, die Gesichter striegelten und Winterstürme an ihren Mänteln rüttelten. Die beiden Auschwitzbewohner ließen sich hievon nicht beirren, stets gingen sie ihren Weg bis hinters Lusthaus und auf anderer Route zurück und trennten sich vor dem Steirereck am Ende der Rasumofskygasse.
    In den frühen Märztagen wehte den Männern bereits ein würziges Frühlingslüfterl um die Nasen.
    »Baretzki hatte den Polen Slunsky derart verdroschen«, sagte Rosinger stockend, »dass dieser zuckend und still am Boden vor dem Block lag. Ich bin vorbeigekommen, sah Baretzki fragend an. Er hatte eine Riesenschnapsfahne, war
rot im Gesicht und spuckte, während er mir zunickte, auf Edek hinunter und ging. Ich kannte Edek ganz gut, er war Pfleger im HKB , Sie haben ihn auch gekannt?«
    »Weiter«, sagte Edmund.
    »Slunsky blutete aus allen Schädelöffnungen. Wie soll ich sagen? Sogar aus den Augen rann das Blut. Ich gab einigen um ihn herumstehenden Häftlingen die Erlaubnis, ihn hineinzutragen. Als sie ihn in die Höh gehoben hatten, starb er. Am nächsten Tag hat der neue Lagerkommandant Liebehenschel die Prügelstrafe verboten.«
    Fraul nickte. »Ein großer Griechentransport war angekommen«, sagte er. »Sie mussten, nachdem der Großteil zur Gaskammer geschickt worden war, davor ausharren und lagerten im Gras. Etwas weiter unten bemerkte ich, dass polnische Häftlinge Fußball spielten. Die Griechen sahen ihnen gleichmütig zu, mir war nicht klar, ob sie wussten, was sie erwartete, vermutlich waren sie ahnungslos. Jedenfalls wurde es dunkel, als es wieder voranging. Es war die Zeit, als sie die längst schon Vergasten ausgraben mussten und auf großen Lattenrosten verbrannten. An jenem Abend geschah die Vergasung des Transportes gleichzeitig mit den Verbrennungen der Leichen einige hundert Meter weiter hinter dem Fünferkrematorium. Moll –«
    »Jessas der«, murmelte Rosinger.
    »Moll sah zwei Kinder, die sich von den Wartenden entfernt hatten. Die Mutter schrie nach ihnen, getraute sich aber nicht, aus der Schlange herauszukommen. Moll führte

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