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Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Schindel
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ging heim. Er wohnte in der Geologengasse im dritten Stock. Die Wohnung war nicht sehr hell und et
was verwinkelt. Hier lebte er seit neunzehnsiebenundvierzig, seit seine Frau gestorben war und ihre Verwandten ihn aus der gemeinsamen Wohnung oberhalb ihrer Apotheke hinausgeekelt hatten. Das Auf und Ab, der Wechsel zwischen Armut und geringem Wohlstand, zwischen Nichtigkeit und Wichtigkeit, begleitete ihn sein Leben lang. Den Alliierten war er nach Kriegsende mit einem kleinen, aber wirksamen Trick durch die Maschen gegangen, sodass er heraufleben konnte als Nachtwächter wie einst sein Vater in Altmünster, aber in Wien und bei der feinen Horch- und Guckgesellschaft Geier. Dort trottete er Tag um Tag, Jahr um Jahr die Stockwerke von Comptoirs, die Hallen von Korkfabriken und Webereien ab, steckte die Schlüssel in die diversen Kontrolluhren. Die Zeit war ihm ein mehr und mehr gilbendes Ziffernblatt, bei dem die Zeiger ihren grünlichen Schimmer nach und nach verloren und wie unsichtbar ihre Kreise zogen, so wie er die seinen. Als sie ihn neunzehnsechzig verhafteten, nickte er seinem inneren Ziffernblatt erleichtert und begütigend zu. Dabei sah er, dass der Minutenzeiger sich bereits verabschiedet hatte. Er wurde nach Deutschland gebracht und ins Gefängnis gesteckt, um dort auf den sogenannten Auschwitzprozess zu warten. Fraul hatte ihn aufgestöbert mit Hilfe von Lebensart, der es sich schon seit Jahren zur Aufgabe gemacht hatte, sich an so kleinen Würschteln wie ihm, Wilhelm Rosinger, zu rächen. Eigenartigerweise hatte er der Umtriebigkeit des Lebensart durchaus mit Sympathie zugesehen, seine Handlungen mit einem Kopfnicken begleitet und sich fast ein bisschen gefreut, wenn Lebensart über die Verbrechen der alten Kameraden die Zeitungen und die Justizbehörden zu informieren versuchte. Er unterdrückte seinen Impuls, den Nazijäger, wie er seit damals genannt wurde, aus seiner bescheidenen »Kiste«, so bezeichnete er seine Dokumente
aus Auschwitz, zu beliefern und ihm aus der Zeit danach Zeugnisse zuzustecken, die gelegentliche Zusammenkünfte von Untergetauchten berichten. Die meisten sind so rasch es ging über die sogenannte Rattenlinie von Hochwürden Hudal nach Südamerika oder in den arabischen Raum abgedampft, er wurde allerdings gar nicht gesucht. Ich gehörte zu den Wichten, nach denen sich nach fünfundvierzig keiner umgeschaut hat. Aber Edmund Fraul, dieser Kummerl aus Simmering, dieser Rotspanier, hatte sich schon Mitte der Fünfziger auf seine Fährte gesetzt, ist in der Geologengasse zeitweise unterm Fenster gestanden. Rosinger dachte damals, das sei ein Kiberer, denn der dünne Edi, der Schreiber des Standortarztes von Auschwitz, sah dem feisten Kerl unter seinem Fenster nicht ähnlich. Drei Jahre rechnete er mit seiner Verhaftung, es kam ihm vor, dass er sie gelegentlich herbeiwünschte. Denn die Kinder, die er in Auschwitz umgebracht hatte, sangen ihn nach dem Krieg mit hässlichen Liedern in den Schlaf. Oft und oft fuhr er hoch und kratzte sich den Rippenbogen, hob die Arme und beroch seine Achselhöhlen, herrschte – auf dem Rücken liegend – seine aufgestellten Knie an, die kahlgeschorenen Kinderhinterköpfen glichen. Als er endlich im Gefängnis einsaß, verstummten die Kinder. Die Richter gaben ihm dreieinhalb Jahre. Die hatte er zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung bereits abgesessen und wurde entlassen. Edi Fraul hatte durchaus zu seinen Gunsten ausgesagt, auch andere Häftlinge hatten ihn als Menschen in SS -Uniform beschrieben. Davon wurden die von ihm mit der Phenolspritze getöteten Kinder nicht mehr lebendig, aber als würden auch sie umgestimmt worden sein, ließen sie ihn nach seiner Rückkehr in die Geologengasse und zu seiner Arbeitstätigkeit als Nachtwächter in Ruhe; selten, dass sie ihm noch etwas zuwisperten. Er sperrte seine
Wohnung auf, machte Licht in seinen Kabinetten, ging etwas in seiner Wohnung hin und her, um dann am Fenster seinen Platz einzunehmen. Schräg gegenüber wohnte seine zuwidere Schwester, mit der er halb zerstritten war, die ihm auf die Nerven ging, wenn er sie nur sah, die ihm aber doch eine gewisse Lebenssicherheit gab, Heimat.
    15.
    Astrid von Gehlen nickte zu dem kleinen dicken Dramaturgen Rüdiger Scherfele hinunter, der zwischen den Sesseln vor der großen Probebühne während der ganzen Zeit unentwegt unterwegs gewesen war, nun aber neben dem nachdenklichen Regisseur Dietger Schönn zum Platznehmen gekommen war.
    »Wundervoll«, rief

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