Der Kalte
und mehr unter ihre Fittiche nahm, ihr näherkam und im Begriff war, sie zur besten Freundin zu machen. Haller hatte einen sehr guten Ruf als Kardiologin, es gab für ihre Umgebung keinerlei Anzeichen dafür, dass sie in ihrem gegenwärtigen Leben noch etwas anderes sei als das. Seit einiger Zeit sah man sie allerdings mit Margit unten in der Kantine sitzen, Kaffee trinken und angeregt
sprechen. Man mochte meinen, die privaten Veränderungen, das sich immer mehr ins Innere hineinbohrende Leid der Margit wegen des Verlustes von Karl Fraul, blieben bei Inge Haller so unbemerkt wie bei allen anderen im Spital, aber die Oberärztin hatte von Beginn des Unglücks an die Schatten mitbekommen, die sich auf Margits Leben gelegt hatten. Eine Weile sah Haller allerdings zu, ohne sich anmerken zu lassen, dass sich ihrer eine Sorge um Margit zu bemächtigen begann. Schließlich merkte Margit, dass die Freundin im Dienstzimmer während der alltäglichen Verrichtungen immer wieder kurze und flinke Seitenblicke auf sie warf, als würde diese Blickkavalkade sicherstellen, dass Margit in der Fasson blieb, nicht aus ihrem Tätigkeits- und Verrichtungsmechanismus kippte. Allerdings hatte das zur Folge, dass die sich beobachtet fühlte, aber nicht zugeben mochte, wie sehr sie das zu irritieren begann.
Heute Mittag wollte sie, statt sich in der Kantine etwas zu nehmen, kurz das Spital verlassen, sich im Arenbergpark unter den Bäumen ergehen und den immer wieder hochkommenden wütenden Schmerz niederkämpfen. Im Aufzug abwärts waren eine Menge Leute, sodass sie ihr Lächelgesicht festzurren musste, solange der Lift mit den vielen Blicken, die sich in ihrem Gesicht umtaten, abwärts fuhr. Sie eilte am Buffet unten vorüber, bemerkte verärgert, dass sie noch immer die Töffles an den Füßen hatte. Sie lief am dicken Portier vorbei aus dem Krankenhaus heraus. Als sie im Park war und eine freie Bank suchte, durfte das Wasser aus ihren Augen kommen. Sie setzte sich, barg ihren Kopf hinter beiden Händen, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass keiner sie ansah. Ihr Leid setzte nun den inneren Transmissionsriemen in Gang, sodass sie mit beiden Schultern ruckartig in sich zusammensank. Doch innerhalb einer Minute fing sie sich selbst auf, straffte sich, warf ihren davor
gebogenen Rücken heftig gegen die Lehne der Bank und atmete tief. Auf ihrem Gesicht spürte sie einen Schatten, sie schaute auf. Inge Haller stand vor ihr.
»Verzeih, Margit, entschuldige.«
Margit Keyntz blickte von unten der Inge Haller aufs Kinn, vermied deren Blick und begann abwechselnd mit dem Kopf zu nicken und mit den Achseln zu zucken. Inge sah sich im Park um, setzte sich neben Margit und schwieg. Eben war es noch sonnig und für diese Jahreszeit angenehm mild gewesen. Nun aber hatte es zugezogen, der Wind hob an und die Tauben gurrten und flogen unruhig herum. Inge legte ihren Arm um Margits Schulter. Beide Frauen standen plötzlich auf.
»Willst du was essen«, fragte Inge. Margit verneinte.
»Aber ich. Komm doch mit.«
Sie gingen ins Gasthaus am Eck zur Boerhaavegasse, setzten sich abseits ins Stüberl. Während Inge ihr Menü verzehrte, erzählte ihr Margit die ganze Geschichte von Karl, von sich mit ihm und ohne ihn, von dieser Astrid von Gehlen, von Macbeth und wie es sei, ein weggeworfener Mistkübel zu sein. Später gingen sie ins Krankenhaus zurück. Inge wollte Margit heimschicken oder, weil sie ablehnte, sie nach Beendigung des Dienstes zu sich mitnehmen, um in Ruhe weiter »an der Sache dranzubleiben«.
Merkwürdig, dachte sich Margit und spürte ein Schaudern, wie teilnahmsvoll ist doch diese einsame, einzig den kranken Herzen verpflichtete Frau zu mir. Wie sehr will sie mir nahekommen, und weshalb lasse ich es zu? In der Teeküche auf der Station sank sie der Inge in die Arme, sie verharrten eine Weile so, indes an der offenen Tür die Menschen den Gang auf und ab gingen, schlurften und eilten. Margit löste sich, sah auf die Uhr.
»Dann wollen wir mal«, sagte sie mit aufgerauter Stimme.
»Ich geh in die Medikamente. Bis zur Nachmittagsvisite.«
»Es ist noch Zeit«, antwortete Inge Haller. Sie griff nach ihrem Block. Margit ging weg und zum Schwesternzimmer, sie trat mit strahlender Miene ein. Schwester Beate sah sie, stand auf.
»Gut, dass Sie kommen. Die Wewerka auf sechs.« Beide liefen zum Krankenzimmer und an der offenen Tür von Inge Haller vorbei, diese stand auf und folgte ihnen zum Bett der schwer atmenden Frau.
27.
Aus
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