Der Kartograph
klüger als er selbst. Er schämte sich für seinen Kleinmut.
Fast wie früher, in derselben selbstverständlichen Vertrautheit, gingen die beiden Männer nebeneinander her, folgten dem Rinnsal, das durch die Hauptstraße von Saint-Dié in Richtung Süden floss, passierten Tor und Brücke und wandten sich dann nach rechts dem schmalen Saumpfad zu, der sich entlang des Wassergrabens zog, der die Stadt umschloss.
Sie sahen nicht, dass ihnen die Augen eines Mannes aufmerksam folgten. In Saint-Dié übernachteten immer wieder Reisende, die von Ost nach West in die Vogesen, weiter in das Herzogtum Lothringen und dann ins Land der Franzosen wollten. Oder sie waren unterwegs, um später in Nord-SüdRichtung durch das Heilige Römische Reich zu reisen – gen Norden auf dem Rhein bis nach Amsterdam oder über die alten Römerstraßen in Richtung Bodensee und über die Alpen nach Italien. Manche blieben ein, zwei Nächte, manche länger, weil sie wegen des Wetters nicht weiter kamen, andere, um im Vorübergehen schnell einen Handel abzuschließen. Saint-Dié war zu klein, um große Geschäfte zu machen. Doch fahrende Händler, die Zierrat für die Frauen mit sich führten, waren gern gesehen.
Am Rand des kleinen Saumpfades hatte sich ein dichtes Gestrüpp aus Büschen und dornigen Ranken gebildet. Immer wieder deuteten Spuren von Tieren im Schnee darauf hin, dass der Pfad auch vom Wild des Tales genutzt wurde. Beide Männer sprachen nicht. Jeder hing seinen Gedanken nach, die sich, wie so oft in den letzten Tagen und Wochen, einzig um das große Werk drehten, das nun immer mehr Form annahm. Auch sieben der zwölf Globensegmente waren inzwischen geschnitzt.
Matthias Ringmann schaute auf. Die Vogesenberge hatten sich Schlafmützen aus Nebel übergezogen. Ihre Gipfel waren in der Wolkensuppe nicht zu erkennen. Bald würde es dunkel werden. Er erschauerte in der Feuchtigkeit und sah zu Martin Waldseemüller hinüber. Das Gesicht des Freundes wirkte erschöpft und blass. Er war stark abgemagert, aß fast nichts mehr.
Sie waren etwa in der Mitte des Weges um die Stadtmauer herum angelangt, als er plötzlich ein Rascheln im Unterholz hörte. Zunächst nahm er an, es könne ein Tier sein, ein Fuchs, ein Wolf oder vielleicht ein verspäteter Bär, der noch nicht in den Winterschlaf gegangen war. In diesem Moment kam ein Sonnenstrahl durch die Wolken und traf eine Messerklinge.
«Martin, duck dich» – das zu rufen, den Freund beiseite zu stoßen und sich selbst ins Gebüsch zu werfen war eins für Ringmann. Doch das Messer hatte seinen Flug schon begonnen. Es traf Martin Waldseemüller in den linken Oberschenkel. Dieser sank stöhnend zu Boden. Matthias Ringmann rappelte sich auf. Sein Wollumhang war voller welker Blätter, Schnee und an einigen Stellen zerrissen von den Dornen der Brombeerranken. Auch sein Gesicht hatte Kratzer abbekommen. Ein weiteres Rascheln im Gehölz machte den beiden klar, dass es der oder die Angreifer vorgezogen hatten, sich schnellstens vom Ort des Geschehens zu entfernen, nachdem der Anschlag missglückt war.
Matthias Ringmann fand die Stelle, an der sie gekauert haben mussten. Aufgrund der unterschiedlichen Größe der Abdrücke im harschigen Schnee kam er zu der Überzeugung, dass es zwei gewesen sein mussten. Trotzdem war natürlich nicht auszuschließen, dass sich noch weitere Angreifer in der Nähe befanden.
Er schaute zu Waldseemüller hinüber. Der lag am Boden und stöhnte. Er hatte das Messer aus der Wunde gezogen und war gerade dabei, ein Stück von seinem Rock damit abzuschneiden, um daraus einen Verband zu machen. Das Blut schoss nur so aus der Wunde. Ringmann sah, dass Ilacomylus immer schwächer wurde. Offensichtlich war eine wichtige Blutbahn verletzt. Er griff sich einen Stock, riss einen langen Fetzen Stoff aus Waldseemüllers Rock, verknotete ihn über dem Stock und drehte diesen so lange, bis das Bluten weniger wurde.
«Kannst du das festhalten, bis ich Hilfe geholt habe?» Martin Waldseemüller nickte. Er hatte keine andere Wahl.
Er spürte jedoch, wie er mit jedem Augenblick an Kraft verlor. «Ich bin sofort wieder zurück.»
Philesius hatte ihm kaum den Rücken gekehrt, da wurde
Martin Waldseemüller ohnmächtig.
Matthias Ringmann war ebenfalls am Ende seiner Kräfte, als er den eigentlich kurzen Weg zurückgelaufen war. Seine gequälte Lunge nahm ihm die Eile sehr übel und quittierte den schnellen Lauf mit fast nicht enden wollenden Hustenanfällen, die ihn mit
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