Der Kartograph
worden war und an der er
unterrichtet hatte. Schlettstadt, das ihn geprägt hatte, dieser
Ort mit seiner bewegten Vergangenheit, den Aufständen des
Schlettstädter Bundschuh. Die Verschwörer hatten die
Abschaffung aller Steuern und des geistlichen Gerichts fordert.
Dafür waren sie hingerichtet worden. Diese Vergangenheit war in
eine Gegenwart der Lehre, des Wissens, des Forschens auf den Grundlagen
des Humanismus gemündet. Für ihn war die Gegenwart des
forschenden, fragenden Geistes ohne die blutige Vergangenheit nicht
denkbar. Manchmal hatte er das Gefühl, dass damit das
Gleichgewicht der Kräfte, der zerstörerischen und der
heilenden, wieder hergestellt werden sollte. Vielleicht lag das
immanente Bedürfnis allen Seins, ein Gleichgewicht zu erreichen,
ja auch dieser Entwicklung zugrunde.
Doch der Freund, der sich sonst für all diese
Zusammenhänge zutiefst interessierte, blieb teilnahmslos. Er
sprach noch nicht einmal mehr über seinen großen Plan, sein
Lebenswerk, seine Karte. Seine gesamte Aufmerksamkeit war auf Marie
Grüninger gerichtet. Seine Augen hingen an ihr, verfolgten jede
ihrer Bewegungen. Den Rest der Welt schien er nur wie in einem Traum
wahrzunehmen. Seine Wirklichkeit war auf diesen einzigen Menschen
zusammengeschmolzen. Und Marie Grüninger genoss es. Wann immer sie
das Gefühl hatte, dass Waldseemüllers Aufmerksamkeit
nachließ, fesselte sie ihn erneut mit einer kleinen Geste, einem
verführerischen Blick. Am Ende verstummte Matthias Ringmann. Er
konnte nichts tun. So erreichten sie endlich Straßburg.
Wäre Martin Waldseemüller Herr seiner
Sinne gewesen, diese Stadt auf der Insel, umarmt von den Wassern der
Ill, hätte ihn begeistert. Das war eine Stadt im Aufbruch, eine,
die nach den langen Jahren des Krieges gegen Burgund nach vorne
strebte. Eine, die sich mit dem Schwörbrief von 1482 nicht nur die
Grundlage für eine neue Verfassung gegeben hatte, sondern auch
für eine neue Zukunft. Es war eine Stadt, die summte und brummte,
eine, die Neues wagte, deren Bürger bereit waren, Risiken
einzugehen. Der Drucker Jean Grüninger, Maries Onkel, war nur ein
Beispiel für diesen Unternehmergeist, diesen Willen zum Aufbruch
in eine neue Zeit, der an allen Ecken und Enden zu spüren war.
Überall wurde gebaut, renoviert, restauriert. Allenthalben
manifestierte sich der neue Wohlstand.
Doch da war auch noch die andere Seite: elende
Gestalten in abgerissenen Kleidern, Armut, das Gesicht der schieren,
ausweglosen Not. Gerade diese Gegensätze machten Straßburg
für Matthias Ringsmann so anziehend. Besonders liebte er das
Münster, aus schwerem Stein und doch filigran, erdverhaftet und
doch in den Himmel stürmend mit seiner unendlichen steinernen
Vielfältigkeit. Der Bau war Ausdruck der Kunst ganzer Generationen
von Steinmetzen, bekannten und unbekannten, die nicht nur Gott ehrten,
sondern sich mit ihrer Arbeit selbst zu einem Teil der Ewigkeit gemacht
hatten. Einer von ihnen, der Baumeister Johann Hültz aus
Köln, hatte vor noch nicht allzu langer Zeit, weniger als eine
Generation, die Westfassade vollendet.
Doch Martin Waldseemüller nahm dies alles nur
schemenhaft wahr. Er war gefangen von einem Traum, der niemals wahr
werden würde, verstrickt in ein Verlangen, dessen Erfüllung
nur diese eine Nacht vergönnt gewesen war. Es dauerte fast zwei
Wochen, bis er wieder halbwegs zu sich fand. Wochen, in denen er
aufgrund der kühlen Behandlung durch Marie eine innere Hölle
durchwanderte. Erst allmählich, ganz langsam, drang die Welt um
ihn herum wieder in sein Bewusstsein vor, in seine Sinne, in seine
Gefühle. Er erinnerte sich noch genau an den Moment, in dem er zu
sich gekommen war, in dem er zum ersten Mal bewusst wahrgenommen hatte,
wo er sich befand. Dieses Bild prägte sich für immer in sein
Gedächtnis ein.
Er erwachte in der Druckerei von Jean
Grüninger durch den Geruch von Firnis, der ihm in die Nase stieg,
in den Ohren die Stimmen vieler Menschen, ein Schnitzmesser in der
Hand. Er saß an einem von mehreren grob gezimmerten Holztischen
in einem Souterrain-Raum von etwa sieben mal sechs Metern. Durch zwei
kleine Fensteröffnungen an der Querseite des Zimmers fiel fahl das
Licht schräg auf seinen Tisch, außerdem brannten Kerzen. Es
war ein diesiger Nachmittag. Er konnte trotz der dicken Mauern den
Regen draußen prasseln hören.
Die Spindel der Druckerpresse krächzte wie
eine alte Frau. Vor ihm war ein Junge damit beschäftigt, die
Bögen von Papier anzufeuchten, die das
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